Fachinfos - Judikaturauswertungen 08.01.2020

Gesetzesbeschluss im Bundestag trotz Rüge der Beschlussfähigkeit

Erfolgloser Antrag auf Verhinderung der Gegenzeichnung, Ausfertigung und Verkündung im Bundesgesetzblatt. Dt. BVerfG 17.9.2019, 2 BvQ 59/19 (08. Jänner 2020)

Sachverhalt

Die 107. Sitzung des Deutschen Bundestages dauerte bis in die frühen Morgenstunden des 28. Juni 2019. Bevor die Abgeordneten mit den Abstimmungen über zwei Gesetzentwürfe begannen, bezweifelte ein Abgeordneter der AfD gegen 1:27 Uhr die Beschlussfähigkeit der Versammlung. Er bat um Überprüfung gemäß § 45 Abs. 2 der Geschäftsordnung.

Die Vizepräsidentin erwiderte für den Sitzungsvorstand: „Also, wir haben hier oben miteinander diskutiert. Wir sind der Meinung, dass die Beschlussfähigkeit gegeben ist.“ Nach weiteren Protesten und Zurufen einiger Abgeordneter der AfD und anderer Fraktionen wurden die Gesetzentwürfe zur Abstimmung gestellt. Sämtliche Gesetzentwürfe erhielten die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, die Mitglieder der AfD stimmten jeweils dagegen. 

Noch im Laufe des 28. Juni 2019 befasste sich der Ältestenrat auf Antrag der AfD mit der Entscheidung des Sitzungsvorstands. Der Präsident des Deutschen Bundestages erklärte in einer Pressemitteilung vom selben Tag, das Präsidium des Bundestages sei einhellig der Auffassung, dass der Sitzungsvorstand die Vorschriften der Geschäftsordnung über die Feststellung der Beschlussfähigkeit korrekt angewendet habe.

Die AfD beantragte daraufhin beim Deutschen Bundesverfassungsgericht (Dt. BVerfG) den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen den Bundespräsidenten: Diesem sei bis zu einer endgültigen Klärung der Rechtslage in einem noch anzustrengenden Organstreitverfahren zu untersagen, die betroffenen Gesetze gegenzuzeichnen, auszufertigen und im Bundesgesetzblatt zu verkünden. 

Die AfD sah sich in ihren organschaftlichen Mitwirkungs- und Beteiligungsrechten dadurch verletzt, dass der Bundestag trotz der Rüge fehlender Beschlussfähigkeit die Gesetze beschlossen hat. Zum Zeitpunkt der Abstimmung hätten sich nicht mehr als 90 Abgeordnete im Plenum des Bundestages befunden, was sich etwa aus den Fernsehaufnahmen ohne Weiteres ersehen ließe. Die Vizepräsidentin sowie der Bundestagspräsident hätten sich auf den Rechtsstandpunkt gestellt, dass § 45 Abs. 2 Satz 1 der Geschäftsordnung dazu ermächtige, die Beschlussfähigkeit „kontrafaktisch auszurufen“.

Entscheidung des Deutschen Bundesverfassungsgerichts

Das Dt. BVerfG kam zu dem Ergebnis, dass die Gründe überwiegen, die gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen. Erginge die einstweilige Anordnung nicht und hätte ein Organstreitverfahren später Erfolg, drohe der Antragstellerin kein schwerer Nachteil. Eine von ihr befürchtete Art „verfassungsrechtlichen Notstands“ werde nicht eintreten. Ein Organstreitverfahren habe andere Rechtsfolgen als ein Normenkontrollverfahren: In seiner Entscheidung über einen Organstreit stelle das Dt. BVerfG nur fest, ob die beanstandete Maßnahme gegen das Grundgesetz verstoße. Im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle könne das Dt. BVerfG ein Gesetz für nichtig erklären. Hieraus folge jedoch keine Rechtsschutzlücke für mögliche Antragsteller/innen des Organstreits.

Unabhängig davon wäre es kein schwerer Nachteil für die Antragstellerin, dass im Falle eines späteren Erfolgs des Organstreits in der Hauptsache zunächst formell verfassungswidrige Gesetze in Kraft blieben. Denn das Grundgesetz kenne keine präventive Normenkontrolle, die einen solchen Zustand verhindern würde. Dass verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz grundsätzlich nachgelagerter, kassatorischer Rechtsschutz sei, sei nicht nur aus grundlegenden Erwägungen demokratischer Gewaltenteilung gerechtfertigt. Dies trage vor allem der ausdrücklichen Kompetenzverteilung des Grundgesetzes Rechnung, wonach das Dt. BVerfG die dem Bundespräsidenten vor der Ausfertigung  obliegende Kompetenz zur Prüfung eines Gesetzes zu respektieren habe. 

Zwar gelte für Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen eine Ausnahme, um eine sonst nur schwer revidierbare völkerrechtliche Bindung zu verhindern, jedoch sei eine solche Situation hier nicht gegeben. 

Darüber hinaus sei nicht zutreffend, dass die fraglichen Gesetze nur durch den Erlass der einstweiligen Anordnung durch einen beschlussfähigen Bundestag abermals verabschiedet werden könnten. Der Bundestag könne zu jedem Zeitpunkt erneut über die betroffenen Gesetze abstimmen, und zwar unabhängig sowohl von einem Erlass der einstweiligen Anordnung als auch von einer Feststellung der Verletzung organschaftlicher Rechte der Antragstellerin in einem späteren Organstreitverfahren.

Vgl. zu diesem Verfahren den Volltext der Entscheidung.