Fachinfos - Judikaturauswertungen 08.01.2020

Getwitterter Stimmzettel

Organklage erst nach erfolglosem Einspruch zulässig. Dt. BVerfG 17.9.2019, 2 BvE 2/18 (08. Jänner 2020)

Sachverhalt

Der Antragsteller ist Mitglied des Deutschen Bundestages. Im Zuge der Kanzlerwahl am 14. März 2018 fotografierte er in der Wahlkabine den von ihm angekreuzten Stimmzettel samt seinem Abgeordnetenausweis und veröffentlichte dieses Foto mit der Überschrift „Nicht meine Kanzlerin“ über seinen Twitter-Account. Nach der Wahl verhängte der Präsident des Deutschen Bundestages ein Ordnungsgeld in Höhe von € 1.000 gegen den Antragsteller und begründete dies mit einem bewussten Verstoß gegen den Grundsatz der Geheimhaltung der Wahl. Dadurch sei die Ordnung und Würde des Bundestages schwerwiegend verletzt worden. Der Antragsteller legte keinen Einspruch gegen die Ordnungsmaßnahme ein, stellte aber beim Deutschen Bundesverfassungsgericht (Dt. BVerfG) einen Antrag auf Feststellung, dass der Präsident des Deutschen Bundestages durch die Ordnungsmaßnahme die verfassungsrechtliche Gewährleistung des freien Mandates (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt hat. Er vertrat die Ansicht, dass ein Einspruch nicht erhoben werden musste, weil es sich dabei bloß um ein organinternes Schlichtungsmittel handelt. Die freiwillige Offenlegung der Wahlentscheidung habe nicht den ordnungsgemäßen Sitzungsablauf gestört und könne die Würde des Bundestages nicht verletzen. 

Entscheidung des Deutschen Bundesverfassungsgerichts

Das Dt. BVerfG erachtete den Antrag als unzulässig, weil dem Antragsteller das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Seit jeher bestünden nämlich Zweifel am Rechtsschutzbedürfnis, wenn ein/e Antragsteller/in die gerügte Rechtsverletzung nicht durch ihm/ihr mögliche Schritte vermieden hat. Zwar sollten Antragsteller/innen nicht pauschal auf allgemeine politische Handlungsalternativen hingewiesen werden und ihnen so der Zugang zu einem verfassungsgerichtlichen Verfahren abgeschnitten werden. Davon seien aber Handlungsoptionen abzugrenzen, die normativ gerade zu dem Zweck vorgesehen seien, um ein Verfassungsrechtsverhältnis erst zu konkretisieren, zu gestalten und gegebenenfalls zu klären. Eine Verpflichtung zur Konfrontation ergebe sich aus dem Charakter des Organstreits als kontradiktorisches Verfahren, in dem über streitig gewordene Rechte und Pflichten zwischen den Beteiligten zu befinden sei. Diese „Konfrontationsobliegenheit“ sei für den Umgang zwischen Verfassungsorganen als selbstverständlich zu erwarten.

Daher sei von einem/einer Antragsteller/in zu verlangen, dass er/sie gegen die verhängten Ordnungsmaßnahmen vor Anrufung des Dt. BVerfG zunächst erfolglos das Einspruchsverfahren durchführt. Denn dieser Rechtsbehelf sei von der Geschäftsordnung des Bundestages konkret für einen derartigen Konflikt vorgesehen. 

Dem Einspruch werde der Charakter eines Antrags auf Abhilfe an die „nächsthöhere Instanz“ zugeschrieben, mit dem der/die betroffene Abgeordnete eine Überprüfung der gegen ihn/sie ergangenen Ordnungsmaßnahme durch den Bundestag – den Inhaber der Ordnungsgewalt – erreichen wolle. Dies hebe den Einspruch von anderen politisch-parlamentarischen Handlungsmöglichkeiten ab. 

Zwar komme dem Einspruch aufgrund seiner niedrigen Erfolgsquote keine Entlastung des etwaig nachfolgenden verfassungsgerichtlichen Verfahrens zu, jedoch gehe es um eine normative Betrachtung des Einspruchs: Dieser sei ein vom parlamentarischen Binnenrecht vorgesehenes Element der Konfrontation mit dem Zweck der jedenfalls möglichen Aufklärung eines Verfassungsrechtsverhältnisses. Zudem gebe das Einspruchsverfahren Gelegenheit zur parlamentarischen Reflexion, eröffne eine Kontrollmöglichkeit und erfülle eine wesentliche legitimatorische Funktion. 

Schließlich führte das Dt. BVerfG die Bedeutung eines – von sämtlichen Ordnungsmaßnahmen geschützten – Gutes ins Treffen: der Ordnung und Würde des Bundestages. Der Antragsteller verweise zwar zu Recht darauf, dass mit den Tatbestandsmerkmalen der Ordnung und Würde des Bundestages auf Konzepte Bezug genommen werde, die für gesellschaftliche Entwicklungen offen seien und durchaus einem dynamischen Verständnis unterliegen könnten. Umso dringender sei es dann jedoch geboten, das gesamte Parlament mit der Frage zu befassen, ob die Wertung des Bundestagspräsidenten zutreffend gewesen sei. Nur so werde dem Plenum ein „in die Zeit Stellen“ des binnenparlamentarischen Ordnungsstandards ermöglicht und der innerparlamentarische Willensbildungs- und Diskursprozess durchlaufen und abgeschlossen.

Die Einspruchsobliegenheit diene somit zugleich einer verfahrensrechtlichen Eröffnung und Stärkung des parlamentarischen Reflektionsraums: Das im parlamentarischen Verfahren gewährleistete Maß an Öffentlichkeit der Auseinandersetzung und Entscheidungssuche eröffne Möglichkeiten eines Ausgleichs widerstreitender Interessen und trage zu einer Willensbildung der Abgeordneten bei, die sie in die Lage versetze, die Verantwortung für ihre Entscheidung zu übernehmen. 

Streit über das parlamentarische Selbstverständnis gehöre in erster Linie in den Binnenraum des Parlaments, sofern dieser regelhafte Mechanismen zur Konsensbildung und Dissensbewältigung bereithalte.

Vgl. zu diesem Verfahren den Volltext der Entscheidung.