Fachinfos - Judikaturauswertungen 10.10.2019

Keine Verletzung im Abgeordnetenrecht durch Fraktionsausschluss

Abgeordnetenrecht durch Fraktionsausschluss im Schleswig-Holsteinischen Landtag nicht verletzt. Schleswig-Holsteinisches LVerfG 29.8.2019, 1/19 (10. Oktober 2019)

Sachverhalt

Die Abgeordnete Fürstin von Sayn-Wittgenstein ist seit 2016 Mitglied der AfD, auf deren Liste sie 2017 in den Schleswig-Holsteinischen Landtag gewählt wurde. 2014 hatte sie einen Beitrag über den Verein Gedächtnisstätte e.V. im Internet veröffentlicht, in dem sie unter anderem Aussagen wie „die unter polnischer bzw. russischer Verwaltung stehenden deutschen Ost-Gebiete“ und „Fast 70 Jahre Krieg und Entmündigung sind genug“ getätigt hatte. Über diesen Beitrag berichtete die Zeitung WELT am 28. November 2018: Der Verein Gedächtnisstätte e.V. stehe seit 2015 auf einer Unvereinbarkeitsliste der AfD und werde seit 2011 durch den Niedersächsischen Verfassungsschutz beobachtet. Die Gedächtnisstätte diene einer geschichtsrevisionistischen, antisemitischen und fremdenfeindlichen Geschichtsbetrachtung; deutsche Kriegsverbrechen würden relativiert und die Kriegsschuld des NS‑Regimes geleugnet.

Am selben Tag fand eine informelle Fraktionssitzung statt, in der die Abgeordnete Sayn-Wittgenstein erklärte, Mitglied des Vereins zu sein und an diesen Geld zu zahlen. Nach der informellen Sitzung teilte sie hingegen mehreren Fraktionsmitgliedern mit, dem Verein nur gespendet zu haben. Am 29. November 2018 wurde eine Einladung zu einer Fraktionsversammlung am 4. Dezember 2018 versandt; auf der beigefügten Tagesordnung fand sich der Antrag auf Ausschluss der Abgeordneten Sayn-Wittgenstein aus der Fraktion. Die Abgeordnete Sayn-Wittgenstein veröffentlichte in der Folge Stellungnahmen, in denen sie mitteilte, bei der Gedenkstätte weder revisionistisches noch antisemitisches Gedankengut festgestellt zu haben und nie Mitglied in dem Verein gewesen zu sein. Bei der Fraktionsversammlung am 4. Dezember 2018 lag als Tischvorlage ein begründeter Antrag auf ihren Ausschluss vor. Die Abgeordnete Sayn-Wittgenstein erhielt Gelegenheit zur Stellungnahme, der Antrag wurde diskutiert und abgeändert. Schließlich wurde die Abgeordnete Sayn-Wittgenstein aus der Fraktion ausgeschlossen, wogegen sie ein Organstreitverfahren einleitete: Der Ausschluss verletze sie in ihren Abgeordnetenrechten; sie sei nicht ordnungsgemäß angehört worden. 

Entscheidung des Landesverfassungsgerichtes Schleswig-Holstein

Das Landesverfassungsgericht hielt den Antrag für nicht begründet, da der Ausschluss die Abgeordnete Sayn-Wittgenstein nicht in ihren Abgeordnetenrechten verletze.

Im Falle des Fraktionsausschlusses stünden das Interesse der Abgeordneten an der Mitarbeit in der Fraktion und das Interesse der Fraktion an der Selbstbestimmung über ihren Mitgliederbestand im Konflikt. Diese Kollision verfassungsrechtlicher Positionen bedürfe der verhältnismäßigen Auflösung. 

Die Voraussetzungen für den Ausschluss stünden angesichts der Berührung verfassungsrechtlich geschützter Positionen nicht im Belieben der Fraktionen. Es müssten verfassungsrechtliche Anforderungen und materielle Voraussetzungen eingehalten werden. 

Das konkrete Ausschlussverfahren halte der verfassungsrechtlichen Überprüfung stand: Die Entscheidung sei von der dafür zuständigen Fraktionsversammlung mit dem erforderlichen Quorum getroffen worden. Der Abgeordneten Sayn-Wittgenstein sei rechtliches Gehör gewährt worden. Sowohl sie als auch die anderen Fraktionsmitglieder hätten ausreichend Zeit zur Vorbereitung und Diskussion gehabt. Die Gründe für den Fraktionsausschluss seien rechtzeitig vor der Beschlussfassung bekannt gewesen. Es sei jedoch nicht der Antrag, sondern lediglich die Absicht des Ausschlusses bekannt zu geben, weshalb unschädlich sei, dass eine ausformulierte Begründung des Antrages erst als Tischvorlage vorgelegen sei. Dass über einen Antrag auf Ausschluss beraten und entschieden werden solle, sei seit der Einladung zur Fraktionsversammlung bekannt gewesen. Der Abgeordneten Sayn-Wittgenstein sei zudem erkennbar bewusst gewesen, dass erstens die Fraktion nicht nur in einer Mitgliedschaft im fraglichen Verein, sondern auch in dessen Unterstützung ein Problem gesehen habe und, dass zweitens für die Fraktion die Außenwirkung sowie die Aufnahme des Vereines in die Unvereinbarkeitsliste von wesentlicher Bedeutung gewesen seien. Daher sei es nicht zu beanstanden, dass der Ausschlussantrag nicht mit der Mitgliedschaft im Verein, sondern mit dessen Unterstützung, der bewussten Übereinstimmung mit dessen Zielen und der medialen Außenwirkung begründet worden sei.

Der Fraktionsausschluss sei auf einen wichtigen Grund gestützt: Ein solcher sei insbesondere gegeben, wenn das für eine sinnvolle Meinungsbildung und Arbeit der Fraktion erforderliche Mindestmaß an prinzipieller politischer Übereinstimmung fehle oder das Vertrauensverhältnis so nachhaltig gestört sei, dass den anderen Mitgliedern die weitere Zusammenarbeit nicht mehr zugemutet werden könne oder, wenn das Ansehen der Fraktion in der Öffentlichkeit nachhaltig geschädigt werde. Auf ein Verschulden komme es nicht an: Abgeordnete stünden unter „öffentlicher Dauerbeobachtung“, weshalb sie bereits für die rein objektive Wirkung ihres Verhaltens einstehen müssten. Der Fraktion stehe dabei ein Beurteilungsspielraum zu, sodass die verfassungsgerichtliche Überprüfung materiell auf eine Willkürkontrolle beschränkt sei. Die Fraktion habe den Ausschluss auf unstreitige Tatsachen gestützt und sei ansonsten von vertretbaren Annahmen (Verhalten könne der Fraktion in der Öffentlichkeit schaden) und nachvollziehbaren Bewertungen (unkollegiales und illoyales Verhalten der Abgeordneten Sayn-Wittgenstein) ausgegangen.

Vgl. zu diesem Verfahren den Volltext der Entscheidung.