Der EGMR erklärte eingangs mit Blick auf das Recht auf freie Wahlen (Art. 3 1. ZPEMRK), dass die Konventionsstaaten bei der Festlegung der Wählbarkeitskriterien grundsätzlich einen weiten Spielraum hätten. Der Grundsatz der Effektivität gebiete aber, dass das Verfahren zur Zulassung von Kandidaturen mit ausreichenden Garantien versehen ist, um willkürliche Entscheidungen der Behörden hintanzuhalten.
Zudem erinnerte der EGMR an die besondere Wichtigkeit für die Gewährleistung des Rechts auf freie Wahlen, dass die gesetzlichen Bestimmungen im Bereich des Wahlrechts in zeitlicher Hinsicht beständig sind: Ändert ein Konventionsstaat die grundlegenden Wahlrechtsbestimmungen zu häufig oder zeitlich kurz vor einer Wahl, riskiert er damit, dass die Öffentlichkeit den Respekt für jene Garantien verliert, die freie Wahlen und das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Abhaltung sichern sollen. Alle gesetzlichen Änderungen im Bereich des Wahlrechts, die mutmaßlich darauf abzielen, allein oder vorwiegend zulasten der Opposition zu wirken, müssten vom EGMR mit besonderer Sorgfalt überprüft werden, insbesondere dann, wenn die Änderungen ihrer Art nach die Chancen der Oppositionsparteien minimieren können, eines Tages die Macht zu erlangen. Wird eine solche Änderung kurz vor einer Wahl beschlossen, und zwar in einem Zeitpunkt, in dem die Prognosen sinkende Stimmenzahlen für die Partei an der Macht vorhersagen, indiziere dies jedenfalls eine Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme.
Im konkreten Fall ging der EGMR davon aus, dass Cegolea in der Ausübung ihres Rechts auf freie Wahlen gemäß Art. 3 1. ZPEMRK eine Ungleichbehandlung erfahren hat, weil sie – im Unterschied zu den bereits im Parlament vertretenen Organisationen – für ihre Organisation Vox Mentis den Status als gemeinnützige Organisation erlangen hätte müssen, um zur Parlamentswahl kandidieren zu können. Diese Ungleichbehandlung sei mit Blick auf ein legitimes Ziel erfolgt, nämlich die Repräsentativität der Kandidat/inn/en zu garantieren und nicht ernst gemeinte Kandidaturen zu unterbinden.
Der EGMR prüfte in der Folge, ob diese Ungleichbehandlung auch gerechtfertigt war, insbesondere ob das Verfahren zur Ablehnung des Status als gemeinnützige Organisation (und in der Folge der Ablehnung ihrer Kandidatur) transparent und frei von Willkür abgelaufen ist und ob Cegolea die ablehnenden Entscheidungen vor den nationalen Gerichten ausreichend bekämpfen konnte.
Dabei stellte der EGMR zuerst fest, dass nach rumänischem Recht die Regierung zuständig war, über die Zuerkennung des Status als gemeinnützige Organisation zu entscheiden: Das Generalsekretariat habe den entsprechenden Antrag dennoch an zwei Behörden weitergeleitet, die den Antrag in der Folge in unterschiedlicher Weise behandelt haben. Rumänien habe im Verfahren nicht begründet, warum der Antrag von zwei Behörden behandelt werden musste; zudem seien die Antworten zu unterschiedlichen Zeitpunkten ergangen, eine vor dem Stichtag für die Einreichung der Kandidaturen und eine danach.
Dem EGMR zufolge hatte Cegolea auch keine Möglichkeit, die Entscheidungen dieser Behörden ausreichend von nationalen Gerichten überprüfen zu lassen. Der oberste rumänische Gerichtshof habe im Jahr 2007 nämlich ausgesprochen, dass es im freien Ermessen der Behörden liege, den Status als gemeinnützige Organisation zuzuerkennen – und zwar auch dann, wenn eine Organisation alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung erfüllt. Die Zuerkennung erfolge daher nach rumänischem Recht auf Basis von Opportunitätserwägungen und nicht aufgrund rechtlicher Kriterien: Die Entscheidungen der Exekutive unterliegen damit keiner effektiven gerichtlichen Kontrolle.
Hinsichtlich der Entscheidung der Direktion für interethnische Beziehungen habe Cegolea also jedenfalls keinen effektiven Rechtsschutz gehabt. Die Entscheidung des Ministeriums für Kultur und nationales Erbe habe sie darüber hinaus auch deshalb nicht effektiv bekämpfen können, weil diese Entscheidung nicht rechtzeitig – nämlich erst nach der Parlamentswahl im Dezember 2012 – ergangen ist.
Der EGMR merkte an, dass es besorgniserregend sei, wie weit die Entscheidungsbefugnis der rumänischen Behörden bei der Zulassung der Kandidaturen für die Parlamentswahl ist. Da die rumänischen Gerichte keine wahre Kontrollbefugnis gehabt haben, seien keine ausreichenden Garantien vorgelegen, um willkürliche Entscheidungen der Behörden zu unterbinden. Die Ungleichbehandlung sei daher im konkreten Fall nicht gerechtfertigt gewesen und Cegolea sei folglich in diskriminierender Form in ihrem Recht auf freie Wahlen (Art. 14 EMRK iVm Art. 3 1. ZPEMRK) verletzt worden.
Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (in englischer Sprache) und den Volltext der Entscheidung (in französischer Sprache).