Fachinfos - Judikaturauswertungen 20.03.2023

Rat der EU muss legislative Dokumente zugänglich machen

Der Rat der EU hat unter bestimmten Bedingungen Zugang zu Dokumenten, die in seinen Arbeitsgruppen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens erstellt wurden, zu gewähren (20. März 2023)

EuG 25.1.2023, T-163/21, De Capitani gg. Rat der EU

Das Gericht der Europäischen Union (EuG) befasste sich mit der Frage des Zugangs zu Dokumenten zum Gesetzgebungsverfahren im Spannungsverhältnis zwischen den Grundsätzen der Offenheit und Transparenz aus der Grundrechte-Charta und AEUV einerseits und der im Sekundärrecht geregelten Ausnahme von der Verbreitung von Dokumenten zum Schutz des Entscheidungsprozesses des Gesetzgebungsorgans andererseits. Es entschied, dass die Verweigerung des Rates der EU (Rat), Zugang zu gewähren, im vorliegenden Fall rechtswidrig war und erklärte den entsprechenden Beschluss des Rates daher für nichtig.

Sachverhalt

Im Ausgangsverfahren beantragte der Kläger, Herr Emilio Di Capitani, beim Rat Zugang zu Dokumenten, die in der Arbeitsgruppe „Gesellschaftsrecht“ des Rates zum Gesetzgebungsverfahren einer Richtlinie betreffend den Jahresabschluss von Unternehmen ausgetauscht worden waren.

Der Rat gab diesem Antrag teilweise statt und gewährte dem Kläger Zugang zu einigen Dokumenten. Zu anderen – ebenfalls beantragten – Dokumenten verweigerte er den Zugang allerdings mit der auf die Verordnung Nr. 1049/2001 gestützten Begründung, dass ihre Verbreitung den Entscheidungsprozess des Rates ernstlich beeinträchtigen würde.

In Reaktion auf einen zweiten gleichlautenden Antrag des Klägers wiederholte der Rat diese Verweigerung mit Beschluss. Zur näheren Begründung brachte er darin unter anderem vor, dass die streitigen Dokumente, angesichts der Thematik der steuerlichen Transparenz multinationaler Unternehmen, einen sensiblen Inhalt hätten; zudem seien sie lediglich vorläufige Erörterungen und das Ergebnis schwieriger Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten (MS) gewesen. Ihre Veröffentlichung würde sich nachteilig auf die loyale Zusammenarbeit der MS auswirken und würde damit den Entscheidungsprozess ernstlich beeinträchtigen. Der Rat brachte auch vor, dass es sich um „technische Dokumente“ handle, die in den Arbeitsgruppen zwischen Beamt:innen der Delegationen der MS erörtert worden seien. 

Gegen diesen Beschluss wandte sich der Kläger mit einem Antrag auf Nichtigerklärung an das EuG. Im Laufe des gerichtlichen Verfahrens übermittelte der Rat dem Kläger die streitigen Dokumente und machte beim EuG (formlos) geltend, dass damit das Rechtschutzinteresse des Klägers weggefallen sei.

Entscheidung des Gerichts der Europäischen Union

Das EuG gab der Klage statt und erklärte den angefochtenen Beschluss für nichtig. 

Es stellte zunächst fest, dass das Rechtsschutzinteresse des Klägers trotz zwischenzeitlicher Zurverfügungstellung der streitigen Dokumente noch vorlag. Der Zugang sei zu dem Zweck begehrt worden, Kenntnis der von den MS im Rat dargelegten Standpunkte vor einer Einigung in demselben zu erlangen und die Gesellschaft gegebenenfalls darüber informieren und eine Diskussion auslösen zu können. Die Übermittlung sei jedoch erst erfolgt, nachdem der Rat seine Verhandlungsposition festgelegt hatte und im Rahmen der interinstitutionellen Triloge (dabei handelt es sich um informelle Treffen zwischen Vertreter:innen des Europäischen Parlaments, des Rates und der Europäischen Kommission) eine Einigkeit erzielt worden war. Zu diesem Zeitpunkt seien die Ziele des Klägers nicht mehr erreichbar gewesen; die Willensbildung im Gesetzgebungsverfahren sei im Wesentlichen nämlich bereits abgeschlossen gewesen. 

In Bezug auf die Begründetheit sei entscheidend, dass die primärrechtlichen Grundsätze der Offenheit und Transparenz den Gesetzgebungsverfahren der Union zwar inhärent und der Zugang zu legislativen Dokumenten daher grundsätzlich so umfassend wie möglich zu gewähren sei, dieser jedoch nicht unbedingt sei und die Beschränkungen der Verordnung Nr. 1049/2001 – primärrechtlich angeordnet – auch für legislative Dokumente gelten würden. Aus dem Primärrecht ergebe sich nämlich bereits, dass der Grundsatz der Offenheit nicht uneingeschränkt gelte.

Im konkreten Fall sei allerdings festzustellen, dass keiner der vom Rat in seinem Beschluss angeführten Gründe die Annahme zulasse, dass die Verbreitung im Anlassfall das Gesetzgebungsverfahren konkret, tatsächlich und nicht hypothetisch ernstlich beeinträchtigt hätte. Der Rat habe keinen konkreten und spezifischen Aspekt dieser Dokumente genannt, der besonders sensibel in dem Sinne wäre, dass ein grundlegendes Interesse der EU oder der MS im Fall der Verbreitung gefährdet worden wäre. Ebenso wenig habe er erläutert, inwiefern der Zugang zu den streitigen Dokumenten konkret, tatsächlich und nicht hypothetisch die Möglichkeiten ernstlich beeinträchtigt hätte, eine Einigung über den fraglichen Gesetzgebungsvorschlag zu erzielen. 

Die Vorläufigkeit der Dokumente sei für sich genommen ebenso wenig geeignet, die Ausnahme vom Zugang zum Schutz des Entscheidungsprozesses im Rat zu rechtfertigen. Das Ziel des Klägers habe gerade darin bestanden, die vorläufigen Dokumente über die Standpunkte der MS zu erhalten, um eben diese verarbeiten zu können. Der vorläufige Charakter dieser Dokumente sei ersichtlich und für jedermann verständlich gewesen; dass die darin enthaltenen Texte Änderungen erfahren würden, sei einer Person, die Zugang zu Dokumenten aus laufenden Verfahren begehre, vollkommen bewusst. 

Im Übrigen habe der Rat keinen greifbaren Nachweis dafür geliefert, dass der Zugang zu den streitigen Dokumenten für die loyale Zusammenarbeit zwischen den MS nachteilig gewesen wäre. Da die Organe im Rahmen der Arbeitsgruppen des Rates ihre jeweilige Ansicht zu einem bestimmten Gesetzesvorschlag und die von ihnen mitgetragenen Änderungen äußerten, sei der Umstand, dass diese anschließend offengelegt würden, für sich allein nicht geeignet, die loyale Zusammenarbeit zu behindern. Im Sinne demokratischer Legitimität müssten sich die Mitgesetzgeber für ihre Handlungen gegenüber der Öffentlichkeit verantworten. Im vorliegenden Fall habe nichts auf einen außergewöhnlichen Druck von außen hingedeutet, der über das hinausginge, was ein beliebiges Mitglied eines Gesetzgebungsorgans, das einen Änderungsvorschlag zu einem Gesetzentwurf vorlegt, von der Öffentlichkeit erwarten könne.

Schließlich könne der Zugang zu den von den Arbeitsgruppen des Rates erstellten Dokumenten nicht wegen ihres „technischen Charakters“ eingeschränkt werden; dies sei kein Argument für die Anwendung der Ausnahme zum Schutz des Entscheidungsprozesses. Im vorliegenden Fall habe es sich zudem gar nicht um Dokumente „technischer Art“ gehandelt; der Umstand, dass die Arbeitsgruppen nicht befugt sind, den endgültigen Standpunkt des Rates festzulegen, bedeute weder, dass ihre Arbeiten nicht üblicher Bestandteil der Gesetzgebungsverfahren seien, noch, dass die erstellten Dokumente „technischer“ Art seien.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.