Fachinfos - Judikaturauswertungen 14.10.2021

Türkei: U-Haft eines oppositionellen Bürgermeisters rechtswidrig

EGMR erachtete Politiker wegen unverhältnismäßig langer U-Haft in Recht auf Freiheit und freie Meinungsäußerung verletzt (14. Oktober 2021)

EGMR 14.9.2021, 31417/19, Tuncer Bakırhan gg. Türkei

Der EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) stellte fest, dass die Verhängung und Aufrechterhaltung der (insgesamt dreijährigen) Untersuchungshaft eines oppositionellen Bürgermeisters wegen seiner politischen Aktivitäten rechtswidrig war. Mangels ausreichender Begründung und Prüfung, ob ein gelinderes Mittel als die Untersuchungshaft in Betracht gekommen wäre, wurde der Beschwerdeführer in seinem Recht auf Freiheit (Art. 5 EMRK) und in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) verletzt.

Sachverhalt

Tuncer Bakırhan wurde im Jahr 2014 als Kandidat der oppositionellen „Partei für Freiheit und Frieden“ (Barış ve Demokrasi Partisi) zum Bürgermeister der Stadt Siirt in der südöstlichen Türkei gewählt. Im November 2016 wurde wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation die Untersuchungshaft über ihn verhängt: Grund dafür war, dass er an den Begräbnissen mehrerer, von den türkischen Behörden getöteter Mitglieder der PKK sowie an öffentlichen Versammlungen teilgenommen und dabei Reden gehalten hatte. Bakırhan wurde zudem seines Amts als Bürgermeister enthoben. Die Untersuchungshaft wurde bis Oktober 2019 laufend verlängert.

Bakırhan brachte vor, dass die Anschuldigungen gegen ihn eng mit seinen Reden verknüpft seien, die durch das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt seien. Zudem sei er bei den erwähnten Begräbnissen und Versammlungen – wie bei Tausenden anderen Begräbnissen und Versammlungen – in seiner Funktion als Bürgermeister anwesend gewesen, ohne eine politische Agenda verfolgt zu haben. Die Untersuchungshaft sei rechtswidrig verhängt worden, weil keine ausreichenden Beweise dafür vorliegen würden, dass er eine Straftat begangen habe. Die Gerichte hätten ihre Entscheidungen nicht ausreichend begründet und es unterlassen zu prüfen, ob ein gelinderes Mittel als die Untersuchungshaft in Betracht gekommen wäre. Auch die Dauer der Untersuchungshaft sei unverhältnismäßig lange gewesen.

Bakırhan wandte sich an den EGMR und behauptete, durch die Verhängung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft in seinem Rechten auf Freiheit (Art. 5 EMRK) und in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) verletzt zu sein.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

Recht auf Freiheit (Art. 5 EMRK)

Der EGMR hob hervor, dass der Richter die Untersuchungshaft nicht nur auf die behaupteten strafbaren Aktivitäten von Bakırhan, sondern auch auf die besondere Schwere der strafbaren Handlung der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation sowie die mögliche Verdunklungs- und Fluchtgefahr, gestützt hatte. Die generell gehaltene Begründung (Schwere der strafbaren Handlung und der drohenden Strafe) sei aber nicht ausreichend gewesen, um die Untersuchungshaft über Bakırhan zu verhängen. Nach türkischem Recht hätte der zuständige Richter jedenfalls prüfen müssen, ob im konkreten Fall ein gelinderes Mittel als die Untersuchungshaft in Betracht gekommen wäre. Eine solche individuelle Prüfung sei allerdings nicht erfolgt. Auch das Vorliegen von Verdunklungs- und Fluchtgefahr sei nicht ausreichend und konkret begründet worden. Demnach sei Bakırhan in seinem Recht auf Freiheit gemäß Art. 5 EMRK verletzt worden.

Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK)

Dem EGMR zufolge war die nahezu dreijährige Untersuchungshaft von Bakırhan als Eingriff in sein Recht auf freie Meinungsäußerung zu werten. Dieser Eingriff sei zwar aufgrund einer gesetzlichen Grundlage erfolgt und habe legitimen Zielen – nämlich dem Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung – gedient. Er sei aber nicht verhältnismäßig gewesen:

Der EGMR rief in Erinnerung, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung für gewählte VolksvertreterInnen, die die Interessen der Wählerschaft vertreten und auf diese aufmerksam machen, besonders wesentlich ist. Die Verhängung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft über Bakırhan sei nicht ausreichend begründet und die Vorwürfe gegen ihn seien eindeutig politischer Natur gewesen. Vor dem Hintergrund der wesentlichen Bedeutung der freien politischen Debatte in einer demokratischen Gesellschaft könne der besonders schwere Eingriff in das Recht auf Freiheit nicht durch einen zwingenden Grund gerechtfertigt werden. Ein derart langer Freiheitsentzug eines gewählten Volksvertreters wegen seiner politischen Aktivitäten sei ein offenkundig unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK), sodass auch dieses Recht verletzt worden sei.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (in englischer Sprache) und den Volltext der Entscheidung (in französischer Sprache).