Fachinfos - Judikaturauswertungen 27.01.2021

Türkei: Meinungsäußerungsfreiheit im politischen Diskurs

Pflicht eines führenden Oppositionspolitikers zur Zahlung einer Entschädigung für kritische Äußerungen über den Premierminister. EGMR 27.10.2020, 16558/18, Kılıçdaroğlu gg. Türkei (27. Jänner 2021)

Sachverhalt

Kemal Kılıçdaroğlu ist Vorsitzender der Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), der größten Oppositionspartei in der Türkei. Im Jänner und Februar 2012 hielt er als Parteivorsitzender Reden bei Sitzungen seines Klubs im Parlamentsgebäude. Dabei übte er in Zusammenhang mit mehreren aktuellen Ereignissen Kritik am damaligen Premierminister der Türkei, dem nunmehrigen Präsidenten Recep Tayyıp Erdoğan: Er bezeichnete ihn in diesem Zusammenhang unter anderem als „Dieb“, „ignorant“, „Lügner“, „Verleumder“ und „Unruhestifter“.

Erdoğan klagte Kılıçdaroğlu wegen Verletzungen in seiner persönlichen und beruflichen Ehre. Das Bezirksgericht Ankara (und in der Folge das Berufungsgericht) verurteilte Kılıçdaroğlu zu einer Entschädigungszahlung in Höhe von insgesamt 10.000 türkischen Lira (= aktuell rund € 1.100). Kılıçdaroğlu beschwerte sich dagegen beim türkischen Verfassungsgericht. Dieses wies die Beschwerde jedoch als unbegründet ab.

Kılıçdaroğlu wandte sich schließlich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und behauptete, durch die Pflicht zur Zahlung einer Entschädigung für seine kritischen Äußerungen über den Premierminister in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) verletzt worden zu sein.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Der EGMR stellte eingangs fest, dass es sich bei einer staatlich auferlegten Pflicht zur Zahlung einer Entschädigung für kritische Äußerungen zweifelsohne um einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung handelt. Dieser Eingriff sei im konkreten Fall gesetzlich vorgesehen gewesen und vor dem Hintergrund erfolgt, die Ehre von Premierminister Erdoğan zu schützen. Es sei jedoch zu prüfen, ob dieser Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft auch tatsächlich notwendig gewesen ist:

Der EGMR hob einleitend hervor, dass die beiden Reden des Oppositionspolitikers Kılıçdaroğlu Angelegenheiten von allgemeinem Interesse betroffen haben: Es liege dabei in der Natur der Sache, dass Kılıçdaroğlu (als einer der politischen Hauptkonkurrent/inn/en) die Aussagen und Taten des damaligen Premierministers Erdoğan einer besonders strengen Kontrolle unterzieht.

Zu berücksichtigen sei zudem, dass Erdoğan – als Premierminister der Türkei – ein besonders hochrangiger Politiker war und sein politischer Kontrahent Kılıçdaroğlu die Reden in seiner Funktion als Abgeordneter innerhalb der Parlamentsgebäude gehalten habe: Freie Meinungsäußerung sei insbesondere für gewählte Abgeordnete wichtig; im Lichte des Art. 10 EMRK dürfe die freie Meinungsäußerung im Zusammenhang mit politischen Reden und Debatten bzw. in Angelegenheiten von öffentlichem Interesse nur sehr begrenzt eingeschränkt werden.

Die Reden Kılıçdaroğlus hätten zudem Themen aktueller Natur und nicht direkt das Privatleben von Premierminister Erdoğan betroffen. Dem EGMR zufolge haben die türkischen Gerichte nicht ausreichend geprüft, ob Kılıçdaroğlus Äußerungen ein ausreichendes Tatsachensubstrat zugrunde lag, obwohl dieser im Verfahren gerade dies behauptet hatte. In der Tat seien Kılıçdaroğlus Äußerungen nämlich in einem direkten Zusammenhang mit den von ihm in seinen Reden erwähnten, aktuellen Themen gestanden. Auch wenn die von ihm verwendeten Ausdrücke als provokant und grob qualifiziert werden konnten, so habe es sich bei ihnen im Wesentlichen bloß um Werturteile gehandelt.

Der EGMR betonte weiters, dass es Personen, die an einer öffentlichen Debatte über Themen von allgemeinem Interesse teilnehmen, gestattet ist, einen gewissen Grad an Überzeichnung oder sogar Provokation anzuwenden. Kılıçdaroğlus Äußerungen seien Teil seines politischen Stils gewesen und haben als solche zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beigetragen. Es habe sich um Äußerungen gehandelt, wie Politiker/innen sie in Reden typischerweise als politische Angriffe formulieren würden.

Die türkischen Gerichte hätten es verabsäumt, die Äußerungen von Kılıçdaroğlu in einem Gesamtkontext zu sehen. Sie hätten lediglich geprüft, ob die Äußerungen die Ehre von Erdoğan verletzen konnten, dabei aber außer Acht gelassen, ob es – mit Blick auf die öffentliche Debatte und Kılıçdaroğlus Absicht – nicht doch zulässig war, in diesem Zusammenhang provokante oder überzeichnete Äußerungen zu tätigen.

Schließlich sei Kılıçdaroğlu nicht zu einer bloß symbolischen Entschädigungszahlung verurteilt worden, sondern zur Zahlung einer verhältnismäßig hohen Geldsumme. Dies konnte im Ergebnis dazu führen, dass auch andere Personen in der Folge davon Abstand nahmen, Politiker/innen im Rahmen von öffentlichen Debatten zu kritisieren.

Der EGMR kam daher zum Schluss, dass Kılıçdaroğlu im vorliegenden Fall in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK verletzt worden ist.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung (jeweils in englischer Sprache).