Fachinfos - Judikaturauswertungen 27.01.2021

VFGH hebt Vorarlberger Regelungen zur Volksabstimmung in Gemeinden auf

Umgehung des Gemeinderats widerspreche dem repräsentativ-demokratischen System der Gemeindeselbstverwaltung. VfGH 6.10.2020, G 166/2020 ua. (27. Jänner 2021)

Sachverhalt

Im Jahr 2019 beantragten Bürger/innen der Gemeinde Ludesch eine Volksabstimmung über die Flächenwidmung eines Grundstücks. Die vom Bürgermeister anberaumte Volksabstimmung ergab eine Mehrheit für die Beibehaltung der bestehenden Widmung „Freifläche-Landwirtschaft“ (und damit gegen eine Umwidmung in Betriebsgebiet) und hatte gemäß der Vbg. Rechtslage dieselbe Verbindlichkeit wie ein Beschluss des Gemeinderats. 15 Stimmberechtigte fochten dieses Ergebnis beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) an und begehrten, das Volksabstimmungsverfahren sowie das Ergebnis der Volksabstimmung für nichtig zu erklären: Eine Volksabstimmung könne nur über einen bereits vom Gemeinderat gefassten Beschluss durchgeführt werden. Auch die Gemeindeorganisation folge nämlich einem repräsentativ-demokratischen Grundkonzept. Aus Anlass dieses Verfahrens fasste der VfGH den Beschluss, einschlägige Bestimmungen der Vbg. Landesverfassung, des Gemeindegesetzes (GG) und des Landes-Volksabstimmungsgesetzes (LVAG) in Prüfung zu ziehen (VfGH 27.2.2020, W III 2/2019).

Entscheidung des Verfassungs­gerichtshofs

Der VfGH hob mit Ablauf des 31. Dezember 2021 jene Bestimmungen des GG und des LVAG als verfassungswidrig auf, mit denen eine gewisse Anzahl von Stimmberechtigten ermächtigt werden, eine Volksabstimmung über eine Angelegenheit des eigenen Wirkungsbereichs der Gemeinde zu beantragen und mit denen das weitere Verfahren bis zur Anordnung einer solchen Volksabstimmung durch den/die Bürgermeister/in geregelt wird. Weitere angefochtene Regelungen, denen eine Willensbildung des Gemeinderats zugrunde liegt und die demnach bundesverfassungskonform interpretiert werden könnten, wurden nicht aufgehoben (Art. 76 Vbg. Landesverfassung sowie § 69 Abs. 3 LVAG).

In diesem Verfahren hatte der VfGH Art. 117 Abs. 8 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) auszulegen, welcher lautet: „In Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde kann die Landesgesetzgebung die unmittelbare Teilnahme und Mitwirkung der zum Gemeinderat Wahlberechtigten vorsehen.“ Gemäß dem VfGH ist diese 1984 eingeführte Bestimmung im Gesamtgefüge des repräsentativ-demokratischen Systems der Gemeindeselbstverwaltung zu deuten. Oberstes Organ der Gemeinde sei der vom Gemeindevolk gewählte Gemeinderat. Gemäß Art. 118 Abs. 5 B-VG seien alle anderen Gemeindeorgane bei der Erfüllung ihrer Aufgaben dem Gemeinderat verantwortlich. Daher könne es nur verbindliche Volksabstimmungen geben, denen eine Willensbildung des Gemeinderats zugrunde liege – etwa indem der Gemeinderat die Volksabstimmung selbst einleite oder diese für verbindlich erkläre. Eine Volksabstimmung im Sinne des Art. 117 Abs. 8 B-VG könne jedoch den Gemeinderat nicht verpflichten, gegen seinen Willen Rechtsakte wie z.B. Verordnungen zu erlassen oder solche Rechtsakte zu unterlassen. Anders als Art. 117 Abs. 6 B-VG, der die Bürgermeister/innen-Direktwahl ausdrücklich für zulässig erkläre, enthalte Art. 117 Abs. 8 B-VG keine konkrete direkt-demokratische Einrichtung. Damit ist aber gemäß dem VfGH auch kein Eingriff in das repräsentativ-demokratische System der Gemeindeselbstverwaltung definiert; eine Entscheidungs-findung völlig ohne Mitwirkung des Gemeinderats sei also auch nicht verfassungskonform.

Ohne Relevanz sei es, dass es hier um Verwaltungsentscheidungen gehe, die nur aufgrund der Gesetze erfolgen können und zudem der Aufsicht durch Landesorgane unterliegen. Entscheidend sei allein, dass das repräsentativ-demokratische System auch im Bereich der Gemeindeselbstverwaltung gelte. Im Übrigen komme der Gemeinde bei Erlassung von Verordnungen erheblicher Gestaltungsspielraum zu. Daher seien die Überlegungen des VfGH zur Vbg. „Volksgesetzgebung“, die er bereits in seinem Erkenntnis VfSlg. 16.241/2001 für verfassungswidrig erklärt habe, auch hier von Bedeutung.

Auch die Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte von Art. 117 Abs. 8 B-VG führe nach Ansicht des VfGH zu keinem anderen Ergebnis. Es wäre zwar das Ziel gewesen, „mögliche Einrichtungen und zum Teil derzeit bereits bestehende Formen direkter Demokratie auf Gemeindeebene bundesverfassungsgesetzlich abzusichern“, doch seien in den Erläuterungen keine konkreten bestehenden landesgesetzlichen Regelungen genannt worden. Deshalb könne auch keineswegs davon ausgegangen werden, dass sämtliche, 1984 bestehenden direkt-demokratischen Instrumente auf Gemeindeebene – wie etwa das seit 1965 bestehende Vbg. Modell – bundesverfassungskonform wären. Weiters solle zwar gemäß den Erläuterungen zur Regierungsvorlage 1984 die unmittelbare Teilnahme der zum Gemeinderat Wahlberechtigten darin bestehen, „daß ihnen – wie dies etwa bei der Volksabstimmung der Fall ist – (..) die Entscheidung anstelle der an sich zuständigen Gemeindeorgane überlassen wird“. Laut VfGH ist damit aber in erster Linie auf die Volksabstimmung nach Art. 43 B-VG, die über einen Beschluss des Nationalrats stattfindet, und das damals in der Landesgesetzgebung überwiegend vertretene Volksabstimmungsmodell, das durch den Gemeinderat eingeleitet wurde, verwiesen worden. Daher könne der Begriff „anstelle“ auch so verstanden werden, dass dem Volk bloß die Möglichkeit zur letztgültigen Entscheidung eingeräumt wird.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.