Fachinfos - Judikaturauswertungen 08.01.2020

Verletzung eines Landtagsabgeordneten im Rederecht

Ordnungsruf ohne Bezug auf konkreten Kontext der Aussagen verletzt Landtagsabgeordneten im Rederecht. LVerfG Mecklenburg-Vorpommern 19.12.2019, 1/19 (08. Jänner 2020)

Sachverhalt

In der 47. Sitzung des Landtags Mecklenburg-Vorpommern am 25. Oktober 2018 wurde der Antrag der Fraktion der AfD „Leistungsmissbrauch verhindern: Sachleistungen für Asylwerber und Ausreisepflichtige“ behandelt. Im Zuge dieser Debatte verwendete der Abgeordnete Kramer mehrfach – in einem Zwischenruf und in einer Rede – das Wort „Neger“.

Am Ende der Sitzung kündigte die vorsitzführende Vizepräsidentin des Landtags an, anhand des Plenarprotokolls alle Redebeiträge und Zwischenrufe genau zu prüfen und gegebenenfalls nachträgliche Ordnungsmaßnahmen zu ergreifen. In der 49. Sitzung des Landtages am 21. November 2018 erteilte sie dem Antragsteller einen Ordnungsruf: „[…] Die Prüfung hat Folgendes ergeben: Der Abgeordnete Kramer hat zunächst als Zwischenruf und dann in einer Rede ein Wort benutzt, das von der Gesellschaft als Schimpfwort und als abwertende Bezeichnung für Menschen mit dunkler Hautfarbe verstanden wird. Wenn ein Abgeordneter ein solches Wort in einer öffentlichen Sitzung des Landtages von Mecklenburg-Vorpommern verwendet, muss er sich über dessen Konnotation bewusst sein. Vor diesem Hintergrund erteile ich Ihnen, Herr Kramer, einen Ordnungsruf.“

Der gegen diesen Ordnungsruf eingelegte Einspruch wurde vom Ältestenrat zurückgewiesen, weshalb der Abgeordnete Kramer im Jänner 2019 beim Landesverfassungsgericht (LVerfG) Mecklenburg-Vorpommern ein Organstreitverfahren einleitete. Er brachte vor, durch den Ordnungsruf in seinem Rederecht verletzt worden zu sein. Er habe das Wort als Bezeichnung für Menschen mit schwarzer Hautfarbe verwendet, ohne jemanden beleidigen zu wollen. Der Ordnungsruf dürfe nicht dazu missbraucht werden, Sprache durch politische Korrektheit einzuschränken und das Denken zu verengen. 

Die Präsidentin des Landtags brachte demgegenüber vor, das Wort werde seit langem abwertend gebraucht und verstanden und sei auch vom Antragsteller in diesem Sinne verwendet worden. Sein Rederecht werde nicht unverhältnismäßig beeinträchtigt, weil er mit der Verwendung des Wortes nicht zur Auseinandersetzung mit der verhandelten Sache beigetragen, sondern dieser lediglich eine negative Assoziation hinzugefügt habe.

Entscheidung des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern

Das LVerfG kam zu dem Ergebnis, dass der für mehrere Verwendungen des Wortes „Neger“ in unterschiedlichen Kontexten einheitlich ausgesprochene Ordnungsruf unzulässig ist: Zwar stehe der Präsidentin des Landtags ein Beurteilungsspielraum zu, der nur einer eingeschränkten Überprüfung durch das Verfassungsgericht unterliege. Diese Kontrolle sei jedoch umso intensiver, je deutlicher eine Ordnungsmaßnahme auf den Inhalt der Äußerung reagiere. Das Rederecht sei besonders schützenswert, wenn es um eine inhaltliche Auseinandersetzung gehe und die thematisierten Fragen für das Parlament und die Öffentlichkeit wichtig seien. Dabei müssten auch polemische Ausdrücke hingenommen werden, wenn sie in eine inhaltliche Stellungnahme eingebettet sind. Jedoch sei die parlamentarische Ordnung jedenfalls dann verletzt, wenn es um eine bloße Provokation, schiere Herabwürdigung Anderer oder Verletzung von Rechtsgütern Dritter gehe. 

Der Ordnungsruf rüge die Verwendung des Wortes an sich. Er knüpfe nicht an die konkreten – in ihren Zusammenhängen durchaus unterschiedlichen – Äußerungen des Antragstellers an. So sei auch jene Äußerung erfasst, in der der Antragsteller seine Ansicht darlegte, das Wort verwenden zu dürfen. Darüber hinaus werde auch ein unvollständiger – oder unvollständig protokollierter – Zwischenruf des Antragstellers mitgerügt.

Die Präsidentin des Landtags müsse das Verhalten jedoch aus seinem konkreten Kontext heraus würdigen. Nur so könne beurteilt werden, ob die Äußerung in eine inhaltliche politische Stellungnahme eingebettet ist und vorrangig der inhaltlichen Auseinandersetzung dient, oder ob sie diesen Rahmen überschreitet und die Würde des Hauses verletzt. 

Gehe es um die Verwendung eines einzelnen Wortes, so komme es darauf an, ob das betreffende Wort als Schimpfwort oder abwertend zu verstehen ist oder ob es in einem sachlichen Kontext verwendet wird, etwa, um über das Wort und seine Verwendbarkeit zu sprechen.  

Unabhängig vom konkreten Zusammenhang könne die Verwendung eines bestimmten Wortes nicht mit einem Ordnungsruf gerügt und damit für die Zukunft allgemein unterbunden werden. Dies sei allenfalls dann anders zu beurteilen, wenn das Wort in jedem denkbaren Kontext ausschließlich der Provokation oder der Herabwürdigung anderer dienen könne.

Das Wort „Neger“ werde zwar nach heutigem Sprachgebrauch in der Regel als abwertend verstanden. Ob es tatsächlich abwertend gemeint sei, könne jedoch nur aus dem Zusammenhang beurteilt werden. Das Wort könne zitierend oder ironisch verwendet werden, oder benutzt werden, um über das Wort, seine Verwendung und seine Verwendbarkeit zu sprechen. Es könne dann geeignet sein, zur inhaltlichen Auseinandersetzung beizutragen. Die Verwendung des Wortes könne in einem solchen Kontext nicht ohne weiteres als bloße Provokation oder Herabwürdigung aufgefasst werden. Vielmehr könne sie Bestandteil einer inhaltlichen Stellungnahme sein. 

Dass der Antragsteller ganz grundsätzlich die Frage der Verwendbarkeit des Wortes „Neger“ aufgeworfen habe, sei für sich genommen sachlich gewesen, auch wenn es in keinem Zusammenhang mit dem Thema der Debatte gestanden sei. Der Abgeordnete habe daher nicht in allen Fällen der Verwendung des Wortes die Würde des Hauses verletzt. Der Ordnungsruf gehe daher zu weit. Zudem hätte der Ordnungsruf umso mehr einer ausdrücklichen Begründung bedurft, als er erst in der übernächsten Sitzung, rund vier Wochen nach dem beanstandeten Verhalten erteilt wurde. DerOrdnungsruf verletze daher das Rederecht des Antragstellers.

Vgl. zu diesem Verfahren den Volltext der Entscheidung.