Fachinfos - Judikaturauswertungen 08.04.2020

VfGH prüft Vorarlberger Regelungen zur Volksabstimmung in Gemeinden

VfGH prüft Vorarlberger Regelungen zur Volksabstimmung in Gemeinden. VfGH 27.2.2020, W III 2/2019 (8. April 2020)

Sachverhalt

Im Sommer 2019 ordnete der Bürgermeister von Ludesch in Vorarlberg (Vbg.) eine Volksabstimmung über die Frage „Sollen die im Ludescher Neugut liegenden Grundstücke (…), GB Ludesch, Freifläche-Landwirtschaft FL bleiben?“ für Sonntag, den 10. November 2019 an. Dem war ein ausreichend unterstütztes Verlangen auf Abhaltung einer Volksabstimmung gemäß §§ 58 und 61 Vbg. Landes-Volksabstimmungsgesetz (LVAG) vorausgegangen.

Die Stimmberechtigten einer Gemeinde können in Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereichs der Gemeinde mittels Abstimmung entscheiden oder verfügen (§ 22 Abs. 1 erster Satz Vbg. Gemeindegesetz – GG). Die Entscheidung, die aus dem Ergebnis der Volksabstimmung hervorgeht, tritt an die Stelle der Entscheidung des sonst zuständigen Gemeindeorgans. Soweit weitere Entscheidungen notwendig sind, sind diese vom zuständigen Gemeindeorgan zu treffen (§ 69 Abs. 3 LVAG).

In der Volksabstimmung sprachen sich 56% für den Erhalt der Widmung FL, also für die Grünzone aus („JA“-Stimmen). Die „NEIN“-Stimmen, die eine Umwidmung zugunsten einer Betriebserweiterung bedeutet hätten, blieben damit in der Minderheit. 

Das Ergebnis der Volksabstimmung wurde in weiterer Folge von 15 Stimmberechtigten – darunter auch Eigentümer/innen der strittigen Grundfläche – gemäß Art. 141 Abs. 1 lit. h B-VG beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) angefochten: Eine Volksabstimmung könne nur über einen bereits vom Gemeinderat gefassten Beschluss durchgeführt werden. Ein solcher Beschluss liege aber nicht vor, sodass ein verfassungswidriger Zustand im Sinne einer „Volksgesetzgebung“ geschaffen worden sei. Die Verfassung folge jedoch dem repräsentativ-demokratischen, parlamentarischen Grundkonzept, welches auch die Gemeindeorganisation mitpräge. Im weiteren rügte die Anfechtung etwa die Verletzung des rechtlichen Gehörs, da die Grundstückseigentümer/innen vor Durchführung der Volksabstimmung nicht angehört worden seien.

Entscheidung des Verfassungs­gerichtshofs

Aus Anlass dieser Anfechtung entschied der VfGH am 27. Februar 2020, die rechtlichen Grundlagen für die Volksabstimmung und die damit untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen im GG und im LVAG auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen (Prüfungsbeschluss).

Der VfGH bezog auch Art. 76 Vbg. Landesverfassung in die Prüfung mit ein, der den Maßstab für die einfachgesetzliche Ausgestaltung der – von Stimmberechtigten verlangten und bindenden – Volksabstimmung in Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereichs der Gemeinde bildet.

Anfechtungslegitimation

Bezüglich der Anfechtungslegitimation verwies der VfGH auf seine Vorjudikatur, wonach die Anfechtung von Gemeinde-Volksabstimmungen zu Recht unmittelbar auf Art. 141 B-VG gestützt werden könne und auch bloß zwei Stimmberechtigte das Ergebnis einer Volksabstimmung auf Gemeindeebene anfechten könnten. Die Anfechtung der gegenständlichen Volksabstimmung durch 15 Stimmberechtigte dürfte daher zulässig sein.

Verstoß gegen repräsentativ-demokratisches System der Bundesverfassung

Der VfGH hegt das Bedenken, dass die in Prüfung gezogenen Bestimmungen nicht durch Art. 117 Abs. 8 iVm Art. 118 Abs. 5 B-VG gedeckt sind, soweit sie sich auf Angelegenheiten beziehen, die in die Zuständigkeit des Gemeinderates fallen. Die Bundesverfassung sehe für die Organisation der Gemeindeselbstverwaltung ein „demokratisch-parlamentarisches System“ vor, in dessen Zentrum der vom Gemeindevolk gewählte Gemeinderat stehe, dem gemäß Art. 118 Abs. 5 B-VG alle anderen Gemeindeorgane bei Erfüllung ihrer dem eigenen Wirkungsbereich zugehörigen Aufgaben verantwortlich seien.

Art. 117 Abs. 8 B-VG ermächtigt die Landesgesetzgebung, „die unmittelbare Teilnahme und Mitwirkung der zum Gemeinderat Wahlberechtigten vor(zu)sehen.“ Der VfGH geht vorläufig davon aus, dass die Begriffe der „Teilnahme“ und „Mitwirkung“ der Wahlberechtigten eine zwingende Beteiligung des Gemeinderates auch im Fall der direkt-demokratischen Willensbildung implizieren, denn die B‑VG‑Novelle 1984, BGBl. 490/1984, mit der diese Bestimmung eingeführt wurde, habe an der von Art. 118 Abs. 5 B-VG vorgesehenen zentralen Rolle des Gemeinderats nichts geändert.

Wie der VfGH schon in der Entscheidung zur Vbg. „Volksgesetzgebung“ auf Landesebene aus dem Jahr 2001 dargelegt hätte (vgl. VfSlg. 16.241/2001), seien direkt-demokratische Elemente im B-VG wegen ihres Ausnahmecharakters restriktiv auszulegen. Dies gelte im Sinne des Homogenitätsprinzips auch für die Gemeindeebene. Daher hätte nach Ansicht des VfGH eine bundesverfassungsgesetzliche Ermächtigung, Entscheidungen des Gemeindevolkes anstelle des Gemeinderates vorzusehen, im Wortlaut deutlicher ausfallen müssen. Die in Prüfung gezogenen Regelungen würden im Fall einer erfolgten Volksabstimmung dem betroffenen Gemeindeorgan die konkrete Angelegenheit sogar grundsätzlich entziehen, da die Entscheidung nicht mehr (repräsentativ-demokratisch) abgeändert werden könnte.

Umgehung verfassungsrechtlich gebotener Verfahrensvorschriften zur Erlassung von Verordnungen

Ergänzend führte der VfGH auch ins Treffen, dass durch die in Prüfung gezogenen Regelungen die verfassungsrechtlich gebotenen Verfahrensvorschriften zur Erlassung von Verordnungen umgangen würden. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die finale Determinierung im Raumordnungsrecht und die deshalb notwendigen Anhörungsrechte. Soweit die Volksabstimmung auch im selbständigen Wirkungsbereich der Gemeinde aufgrund von Bundesgesetzen zulässig zu sein scheint (§ 22 Abs. 1 GG), würde damit auch die Kompetenzverteilung und das Berücksichtigungsgebot tangiert sein.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.