Der EuGH hat entschieden, dass die Regelung, nach der ordentlichen Gerichte in Rumänien nicht befugt seien, die Unionsrechtskonformität nationaler Rechtsvorschriften zu prüfen, nicht mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts vereinbar sei.
Der EuGH hat zunächst festgehalten, dass Art. 19 Abs. 1 EUV, der die Gerichtsbarkeit in der EU regelt, nicht einer nationalen Praxis oder Regelung entgegensteht, nach der ordentliche Gerichte eines Mitgliedstaats nach nationalem Recht an Entscheidungen des Verfassungsgerichts gebunden seien. Voraussetzung dafür sei jedoch, dass das Verfassungsgericht unabhängig von Legislative und Exekutive sei. Eine solche Regelung oder Praxis dürfe aber dann nicht zur Anwendung gelangen, wenn es den ordentlichen Gerichten nicht gestattet sei, die Vereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit dem Unionsrecht zu prüfen.
Der EuGH betonte, dass die Verpflichtung der nationalen Gerichte, alle unmittelbar wirksamen Unionsrechtsvorschriften ohne Einschränkung anzuwenden, wichtig sei, um die Achtung der Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen sicherzustellen. Das gebieten die Grundsätze der Einheitlichkeit der Rechtsanwendung und der loyalen Zusammenarbeit in der Union.
Im konkreten Fall wies der EuGH darauf hin, dass er sich bereits in anderen Entscheidungen mit dem Anwendungsbereich der Vorgaben für die Justizreform und Korruptionsbekämpfung befasst habe, und dass diese präzise formuliert und unmittelbar anwendbar seien. Daraus folge, dass die rumänischen ordentlichen Gerichte nationale Bestimmungen, die nicht im Einklang mit den genannten Vorgaben stehen, unangewendet lassen müssen. Die rumänischen ordentlichen Gerichte seien zuständig, diese Normen des Unionsrechts zu beurteilen, ohne dass sie ein Ersuchen an den Verfassungsgerichtshof richten müssten. Die Entscheidung des rumänischen Verfassungsgerichtshofes vom Mai 2021 nehme ihnen jedoch diese Zuständigkeit. Damit würden die ordentlichen Gerichte, die die Anwendung des Unionsrechts sicherstellen sollen, daran gehindert, ihrer Aufgabe nachzukommen. Durch die Vorgaben des Verfassungsgerichtshofes, würde die Wirksamkeit des Vorabentscheidungsverfahrens und damit auch die Zusammenarbeit zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten beeinträchtigt.
Schließlich geht der EuGH auf den Umstand ein, dass das rumänische Verfassungsgericht seine Rechtsansicht mit dem Verweis auf die Verfassungsidentität Rumäniens gerechtfertigt habe. Wenn jedoch das Verfassungsgericht der Ansicht sei, dass eine Bestimmung des sekundären Unionsrechts den EU-Verträgen widerspreche, dann müsse es diese Frage dem EuGH vorlegen. Nur der EuGH sei befugt, die Ungültigkeit einer Handlung der Union festzustellen. Diese Kompetenz komme keinem Gericht der Mitgliedstaaten zu.
Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.