Fachinfos - Judikaturauswertungen 11.08.2022

Vorrang des Unionsrechts und nationale Gerichtsbarkeit

Eine Regelung, mit der nationalen Gerichten untersagt wird, die Unionsrechtskonformität nationaler Rechtsvorschriften zu prüfen, ist unionsrechtswidrig (11. August 2022)

EuGH 22.2.2022, C-430/21, RS

Der rumänische Verfassungsgerichtshof hat im Mai 2021 festgestellt, dass rumänische Gerichte nicht befugt seien, zu prüfen, ob eine nationale Regelung dem Unionsrecht entspreche. Das Berufungsgericht Craiova hat den EuGH ersucht, zu prüfen, ob eine solche Regelung zulässig sei. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat fest­gestellt, dass die Anwendung einer solchen Regelung den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts und die Wirksamkeit des Vorabentscheidungsverfahrens beeinträchtigen würde.

Sachverhalt

Dem EuGH-Verfahren geht ein Strafverfahren in Rumänien voraus, in dem RS verurteilt wurde. Im April 2020 erstattete seine Ehefrau Strafanzeige gegen einen Staatsanwalt und zwei Richter wegen mehrerer Straftaten (Amtsmissbrauch, unrechtmäßige Straf­verfolgung u. a.). Diese Taten sollen im Rahmen des Strafverfahrens gegen RS begangen worden sein. Die Ermittlungen zu solchen Straftaten werden bei einer spezialisierten Abteilung der Staatsanwaltschaft geführt.

Im Juni 2021 erhob RS eine Beschwerde beim Berufungsgericht Craiova, mit der er die übermäßige Dauer der Ermittlungen rügte und beantragte, dem mit der Strafanzeige befassten Staatsanwalt eine Frist zu setzen. Das Berufungsgericht Craiova hielt es für erforderlich, zu prüfen, ob die nationalen Rechtsvorschriften zur Errichtung der spezia­lisierten Abteilung der Staatsanwaltschaft mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Aller­dings war im Mai 2021 eine Entscheidung des rumänischen Verfassungsgerichts ergan­gen, nach der es rumänischen Gerichten nicht mehr erlaubt war, eine solche Konformi­tätsprüfung durchzuführen. Daher beschloss das Berufungsgericht Craiova, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob das Unionsrecht dieser Vorgabe des Verfassungsgerichts entgegenstehe.

Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union

Der EuGH hat entschieden, dass die Regelung, nach der ordentlichen Gerichte in Ru­mänien nicht befugt seien, die Unionsrechtskonformität nationaler Rechtsvorschriften zu prüfen, nicht mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts vereinbar sei.

Der EuGH hat zunächst festgehalten, dass Art. 19 Abs. 1 EUV, der die Gerichtsbarkeit in der EU regelt, nicht einer nationalen Praxis oder Regelung entgegensteht, nach der ordentliche Gerichte eines Mitgliedstaats nach nationalem Recht an Entscheidungen des Verfassungsgerichts gebunden seien. Voraussetzung dafür sei jedoch, dass das Ver­fassungsgericht unabhängig von Legislative und Exekutive sei. Eine solche Regelung oder Praxis dürfe aber dann nicht zur Anwendung gelangen, wenn es den ordentlichen Gerichten nicht gestattet sei, die Vereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit dem Unionsrecht zu prüfen.

Der EuGH betonte, dass die Verpflichtung der nationalen Gerichte, alle unmittelbar wirksamen Unionsrechtsvorschriften ohne Einschränkung anzuwenden, wichtig sei, um die Achtung der Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen sicherzustellen. Das gebieten die Grundsätze der Einheitlichkeit der Rechtsanwendung und der loyalen Zu­sammenarbeit in der Union.

Im konkreten Fall wies der EuGH darauf hin, dass er sich bereits in anderen Entschei­dungen mit dem Anwendungsbereich der Vorgaben für die Justizreform und Korrupti­onsbekämpfung befasst habe, und dass diese präzise formuliert und unmittelbar an­wendbar seien. Daraus folge, dass die rumänischen ordentlichen Gerichte nationale Bestimmungen, die nicht im Einklang mit den genannten Vorgaben stehen, unangewen­det lassen müssen. Die rumänischen ordentlichen Gerichte seien zuständig, diese Nor­men des Unionsrechts zu beurteilen, ohne dass sie ein Ersuchen an den Verfassungs­gerichtshof richten müssten. Die Entscheidung des rumänischen Verfassungsgerichts­hofes vom Mai 2021 nehme ihnen jedoch diese Zuständigkeit. Damit würden die or­dentlichen Gerichte, die die Anwendung des Unionsrechts sicherstellen sollen, daran gehindert, ihrer Aufgabe nachzukommen. Durch die Vorgaben des Verfassungsge­richtshofes, würde die Wirksamkeit des Vorabentscheidungsverfahrens und damit auch die Zusammenarbeit zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten beeinträchtigt.

Schließlich geht der EuGH auf den Umstand ein, dass das rumänische Verfassungsge­richt seine Rechtsansicht mit dem Verweis auf die Verfassungsidentität Rumäniens ge­rechtfertigt habe. Wenn jedoch das Verfassungsgericht der Ansicht sei, dass eine Be­stimmung des sekundären Unionsrechts den EU-Verträgen widerspreche, dann müsse es diese Frage dem EuGH vorlegen. Nur der EuGH sei befugt, die Ungültigkeit einer Handlung der Union festzustellen. Diese Kompetenz komme keinem Gericht der Mit­gliedstaaten zu.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.