Fachinfos - Fachdossiers 20.10.2022

Was bewirken Klimaklagen?

Dieses Fachdossier fokussiert sich auf Klimaklagen von Klimaschützer:innen gegen Staaten. Es beschäftigt sich mit Erfolgen solcher Klimaklagen vor europäischen Höchstgerichten und lenkt den Blick auf anstehende Entscheidungen des EGMR. (20.10.2022)

Was bewirken Klimaklagen?

Klimaklagen sind ein weltweites Phänomen und können in verschiedene Gruppen unterteilt werden (siehe dazu den Global Climate Litigation Report 2020). Sehr zahlreich sind Klagen von Bürger:innen, Umweltorganisationen oder Kommunen gegen den Staat: Ziel ist es, dass Gerichte den Gesetzgeber oder die Verwaltung zur besseren Umsetzung der Übereinkommen der Vereinten Nationen (UN) zum Klimaschutz verpflichten. Es werden jedoch auch Unternehmen direkt geklagt, ihre Treibhausgas-Emissionen (THG-Emissionen) entsprechend zu reduzieren oder Schäden zu bezahlen, die aus dem Klimawandel resultieren. In einer dritten Gruppe geht es um die staatliche Zulassung von fossiler Energiegewinnung wie Ölbohrungen oder starker THG-Emittenten. Andererseits gehen auch Unternehmen zu Gericht, und zwar gegen klimaschutzbedingte Beschränkungen.

Das UN-Umweltprogramm (UNEP) widmete den Klimaklagen bereits zwei Analysen, und zwar in den Jahren 2017 (Klimawandel vor Gericht. Ein globaler Überblick) und 2020 (Global Climate Litigation Report: 2020 Status Review). In einer Datenbank (Climate Case Chart) der Columbia Law School in New York sind bereits über 2000 einschlägige Verfahren dokumentiert, darunter auch drei österreichische Verfahren (betreffend die Steuerprivilegien für den Flugverkehr, Letzteres im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH), und im noch anhängigen Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)).

Ursache von Klimaklagen

Seit 1988 bereitet ein weltweit gespanntes Netz an Wissenschafter:innen, das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) – auch Weltklimarat genannt –, die Grundlagen für die Klimapolitik im Rahmen der UN auf. Der Weltklimarat zeigt in seinen Sachstands- und Sonderberichten Ursachen und Folgen der Klimaveränderung auf und untersucht, inwiefern der Ausstoß von THG begrenzt bzw. beendet werden muss, um die Klimaerwärmung und daraus folgende unbeherrschbare Risiken für natürliche und menschliche Systeme hintanzuhalten. Nach der Klimarahmenkonvention von 1992 kam man im Kyoto-Protokoll von 1997 erstmals zu quantifizierten Minderungszielen für THG-Emissionen (für Industrieländer) überein. Im Pariser Übereinkommen von 2015 einigten sich über 190 Vertragsstaaten, den Temperaturanstieg gegenüber der vorindustriellen Zeit auf deutlich unter 2 Grad Celsius und möglichst auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. In der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts sollen nicht mehr THG-Emissionen ausgestoßen werden, als durch Schadstoffsenken wie z. B. Wälder abgebaut werden können. D. h., dass 2050 kaum mehr THG emittiert werden sollen. Der Weltklimarat und andere wissenschaftliche Institutionen zeigen allerdings in ihren regelmäßigen Berichten fundiert auf, welche Diskrepanzen zwischen diesen Übereinkommen der Vertragsstaaten und der Wirklichkeit der nationalen Umsetzung bestehen. 

So ist aus der folgenden Grafik der Europäischen Umweltagentur (EEA) vom Dezember 2019 ersichtlich, wie in der Europäischen Union (EU) vor 2015 die THG-Emissionen wieder stiegen, obwohl 2005 zur Reduktion von THG-Emissionen der Emissionshandel eingeführt wurde. Ferner zeigt die Grafik, wie sich der Ausstoß von THG-Emissionen in den Mitgliedstaaten der EU einerseits mit bereits existierenden Maßnahmen („with existing measures“) und andererseits mit weiteren geplanten Maßnahmen („with additional measures“) im Vergleich zu den für 2020 und 2030 gesetzten Etappenzielen sowie im Vergleich zum Ziel für 2050 entwickelt.

Quelle: GHG emissions trends and projections in the EU-28, 1990-2035 — European Environment Agency (europa.eu)

Temperaturanstieg von 2,7 Grad Celsius zu erwarten

Auch der letzte Emissionslückenbericht des UN-Umweltprogramms vom Oktober 2021 kommt zu dem Ergebnis, dass aufgrund der bisher von den Vertragsstaaten gemeldeten Reduktionspläne mit einem Temperaturanstieg von mindestens 2,7 Grad Celsius in diesem Jahrhundert zu rechnen ist. Aufbauend auf dieser wissenschaftlich aufbereiteten Faktenlage bemühen Klimaschützer:innen daher die Grund- und Menschenrechte, wie z. B. das Recht auf Leben, und andere Rechtsschutzmechanismen, um über Gerichtsentscheidungen eine ambitioniertere Umsetzung der UN-Klimaabkommen durch Gesetze und Verwaltungsakte zu bewirken. Über die unabhängigen Gerichte soll die Politik verpflichtet werden, sich dem hohen Transformationsbedarf zu stellen sowie die langfristige Perspektive und damit die Zukunftschancen der Jugend – trotz vergleichsweise kurzer Wahlintervalle von regulär vier bis sechs Jahren und meist entsprechend kurzfristiger politischer Vorhaben – zu wahren.

Hürden

Selbst in den Mitgliedstaaten der EU und des Europarats sind die nationalen Gerichts- und Rechtsschutzsysteme recht unterschiedlich. Oft können unzureichende Regelungen nur von jenen vor Gericht angefochten werden, in deren individuelle Rechtssphäre die Norm eingreift. Fehlt es überhaupt an entsprechenden Regelungen, kann gegen diese Säumigkeit des Gesetzgebers meistens gar nicht vorgegangen werden. Ersteres soll anhand eines Falles illustriert werden:

In Österreich können natürliche und juristische Personen ein Gesetz beim VfGH nur dann direkt anfechten, wenn es an sie adressiert ist bzw. ihre Rechtssphäre direkt nachteilig berührt ist. So wies der VfGH eine Anfechtung von Steuerbefreiungen für Luftfahrtunternehmen (Umsatzsteuer und Mineralölsteuer) im Herbst 2021 mangels Eingriffs in die Rechtssphäre der Antragsteller:innen zurück. Bürger:innen und eine Umweltorganisation hatten geltend gemacht, dass diese Steuerbefreiung sie als Bahnfahrer:innen benachteilige, da sie deshalb vergleichsweise höhere Ticketpreise zu zahlen hätten als Flugreisende. Der Flugverkehr würde dadurch – wider das öffentliche Interesse am Klimaschutz – gefördert, obwohl er 31-mal mehr CO2 als der Bahnverkehr verursache. Der VfGH verwies jedoch darauf, dass die bekämpften steuerrechtlichen Regelungen an die Luftfahrtunternehmen adressiert seien und wenn überhaupt nur die Rechtssphäre von Flugreisenden berühren könnten (VfGH 30.9.2020, G 144-145/2020, V 332/2020).

Ausgewählte erfolgreiche Klimaklagen in Europa

In den letzten Jahren haben jedoch europaweit auch einige Klagen die Hürden für den Gerichtszugang genommen oder stießen von vornherein auf einen offeneren Gerichtszugang. Vier Fälle fanden besondere Aufmerksamkeit:

  • In den Niederlanden gibt es zwar kein Verfassungsgericht, das – wie in Österreich – grund- und menschenrechtswidrige Gesetze aufheben kann. Allerdings eröffnet das niederländische Zivilgesetzbuch (Art. 3:305a) natürlichen Personen und Vereinigungen den Gerichtsweg, um Gemeinwohlbelange gegenüber dem Staat (und Privaten) geltend zu machen. Das Bezirksgericht (Rechtbank) in Den Haag verpflichtete bereits 2015 die niederländische Regierung zu einem ambitionierteren CO2-Reduktionsziel. 2019 wurde diese Entscheidung in letzter Instanz (Hoge Raad) bestätigt.
  • Ein halbes Jahr später folgte der irische Oberste Gerichtshof (Supreme Court) mit der Aufhebung des nationalen Klimaschutzplans, weil er zu vage sei und interessierte Personen so nicht beurteilen könnten, ob die beabsichtigten Maßnahmen zur Erreichung des THG-Reduktionsziels bis 2050 realistisch und akzeptabel seien.
  • Im März 2021 erklärte das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Bestimmungen des deutschen Klimaschutzgesetzes für verfassungswidrig, weil der Zielhorizont mit 2030 zu kurz gesetzt sei. Der Reduktionspfad müsse bis 2050 festgelegt werden, nicht zuletzt um die notwendige Planungssicherheit zu gewährleisten. Die THG-Minderungslast sei über die Zeiten bzw. Generationen verhältnismäßig zu verteilen. Die Grundrechte würden nämlich jetzt schon vor zukünftigen unverhältnismäßigen Freiheitseinschränkungen schützen.
  • Einige Monate später befand der französische Staatsrat (Conseil d’État, das höchste Verwaltungsgericht), dass die bisher gesetzten und geplanten Maßnahmen der Regierung unzureichend seien. Er verpflichtete die Regierung, weitere Maßnahmen zu setzen, damit die durch das Europarecht und die französischen Gesetze bis 2030 festgesetzten jährlichen Obergrenzen für CO2-Emissionen eingehalten werden können. Im Laufe der Beweisaufnahme hatte selbst die Ministerin für Ökologiewende die Umsetzungsdefizite eingestehen müssen, wie das Urteil festhielt.

Die niederländische höchstgerichtliche Entscheidung war wesentlich auf das Recht auf Leben (Art. 2 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)) und das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) gestützt. Auch wenn kein Staat allein den Klimawandel aufhalten und daher allein verantwortlich gemacht werden könne, so hätte doch jeder Staat seinen Anteil an der THG-Reduktion zu leisten.

Das deutsche BVerfG stützte sich auf die nationalen Grundrechte, die im Lichte des Staatsziels zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Tiere (Art. 20a Grundgesetz) verstanden wurden. Gemäß dem BVerfG steht der Umstand, dass eine sehr große Zahl von Personen (von einer Rechtsvorschrift wie dem Klimaschutzgesetz) betroffen ist, einer individuellen Grundrechtsbetroffenheit nicht entgegen.

Das irische und das französische Höchstgericht beriefen sich auf das Europarecht bzw. nationale Gesetze. Hier finden Sie eine Übersichtstabelle zu den erwähnten Entscheidungen, aus der auch die Verfahrensdauer hervorgeht, zum Download als PDF:

Ausgewählte höchstgerichtliche Entscheidungen über Klimaklagen / PDF, 82 KB

Wirkung dieser Judikate

Die dargestellten Judikate verpflichten zu ambitionierteren Reduktionszielen (NL), langfristigeren Zielhorizonten und Reduktionspfaden (D), zur präzisen Beschreibung von geplanten Reduktionsmaßnahmen (IRL) und zu ambitionierteren Maßnahmen (F). Wie das deutsche BVerfG ausführt, ist das dortige Klimaschutzgesetz ein Rahmengesetz, das lediglich Ziele und Prinzipien der Klimaschutzpolitik verankert. Damit werde noch nicht unmittelbar CO2 eingespart. Dies setze die Änderung verschiedener Fachgesetze voraus. Mit den ausgewählten Gerichtsentscheidungen ist also im Wesentlichen noch nicht mehr gesagt, als dass die bisherigen staatlichen Zielsetzungen und Pläne ungenügend waren. Es werden in den Urteilen insbesondere keine konkreten Maßnahmen (wie z. B. eine CO2-Besteuerung) vorgezeichnet. Diese zu bestimmen und in Geltung zu setzen bleibt jedenfalls der Politik überlassen.

In allen genannten Ländern kam es im zeitlichen Zusammenhang zu den Urteilen zu Gesetzgebungsaktivitäten. In den Niederlanden und Deutschland wurden neue Gesetze erlassen, dies erfolgte laut expliziter Regierungskommunikation in Reaktion auf die Gerichtsentscheidungen. In den Niederlanden wurde im Juli 2019 – bereits vor dem höchstgerichtlichen Urteil – ein neues Klimaschutzgesetz (Klimaatwet) kundgemacht, das nun bereits Zielsetzungen für den Zeithorizont 2030 (49 % Reduktion) und 2050 (Klimaneutralität) festlegt (siehe Climate policy | Climate change | Government.nl). Das mit Sommer 2021 geänderte deutsche Klimaschutzgesetz bestimmt nun u. a., dass 2045 Klimaneutralität erreicht sein soll. Auch für die Jahre 2031 bis 2045 werden die jährlichen Minderungsziele (THG-Emissionsobergrenzen) festgelegt (siehe im Detail die Information der deutschen Bundesregierung). In Irland begrüßte der zuständige Minister das Urteil. Die Regierungskommunikation zur Änderung des irischen Klimaschutzgesetzes bzw. der neue Klimaschutzplan 2021 nehmen jedoch nicht dezidiert Bezug auf das Gerichtsurteil. In Frankreich wurde im August 2021 ein umfangreiches Gesetz (Loi Climat & Résilience) erlassen, das aber als Umsetzung der Forderungen des Klima-Bürger:innenrats (2019–2020) kommuniziert wird. In den beiden letztgenannten Fällen lässt sich ein inhaltlicher Zusammenhang mit den Gerichtsurteilen vermuten, aber anhand der einfach zugänglichen Dokumente nicht belegen.

Beim EGMR anhängige Klimaklagen

Gemäß der Kommunikation des EGMR (siehe u. a. Environment and the ECHR, Oktober 2022, S. 2) und der Fachliteratur sind am Straßburger Gerichtshof derzeit fünf Klimaklagen anhängig. Drei davon wurden von der zuständigen Kammer gemäß Art. 30 EMRK an die Große Kammer, die für die Beantwortung schwerwiegender Rechtsfragen zuständig ist, zur Entscheidung abgegeben.

Hier finden Sie eine Tabelle zu den am EGMR anhängigen Klimaklagen mit weiteren Details, wie Kläger:innen und belangte Staaten, zum Download als PDF:

Am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anhängige Klimaklagen / PDF, 94 KB

Die Entscheidungen werden mit großem Interesse erwartet, ist der EGMR doch erstmals mit Rechtsfragen des Klimaschutzes befasst. Seine Entscheidungen binden alle Vertragsstaaten. Wird er die Zugangsregelungen zum Gericht und die Grundrechte so handhaben, dass seine Entscheidungen inhaltliche oder prozedurale Vorgaben in Bezug auf den Klimaschutz für die politischen Entscheidungsträger:innen aufstellen?

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