Fachinfos - Fachdossiers 10.05.2023

Was macht zivilen Ungehorsam aus?

Protestaktionen im öffentlichen Raum, die als ziviler Ungehorsam bezeichnet werden, stehen zunehmend im Zentrum politischer Debatten. Das Fachdossier stellt die Frage, was ziviler Ungehorsam ist und worauf er abzielt.

Eine neue Protestform?

Temporäre Blockaden des Autoverkehrs, Attacken auf Kunstwerke oder die Besetzung von Baustellen: Verschiedene Gruppen wie Extinction Rebellion,  Letzte Generation oder Ende Gelände wollen mit Aktionen wie diesen vor allem auf die voranschreitende Klimaerhitzung hinweisen und ziehen damit in Österreich besonders viel Aufmerksamkeit auf sich. Grund dafür könnte sein, dass Protest hierzulande bis vor Kurzem „überwiegend moderate Aktionsformen“ aufwies, wie der Politikwissenschaftler Martin Dolezal (2021) konstatiert.

Die eben genannten Protestaktionen werden oft als ziviler Ungehorsam bezeichnet. Dieses Fachdossier bietet einen Einblick in Theorien zu dieser spezifischen Form von Protest, identifiziert zentrale Aspekte darauf Bezug nehmender politischer und rechtlicher Debatten und hinterfragt, was zivilen Ungehorsam heute ausmacht.

Ziviler Ungehorsam in Politik und Recht

Es existieren verschiedene Definitionen von zivilem Ungehorsam. Gemeinsam ist diesen, dass im Rahmen von Aktionen gegen ein Gesetz verstoßen wird, um entweder direkt gegen dieses Gesetz oder gegen darüber hinausgehende Entwicklungen zu protestieren. Weitere Kriterien, die zivilen Ungehorsam von einem bloßen Rechtsbruch abgrenzen, werden weiter unten diskutiert (siehe „Theoretische Überlegungen“ und „Aktuelle Debatten und Fragen“).

Auch wenn derartige Aktionen aktuell in erster Linie mit Fragen der Klimapolitik in Zusammenhang stehen, taucht das Schlagwort ziviler Ungehorsam immer wieder und in Verbindung mit unterschiedlichen Themen in politischen Auseinandersetzungen auf. Für Debatten im Nationalrat lässt sich dies beispielhaft anhand einer Suchabfrage in den parlamentarischen Materialien zeigen: Die Palette reicht vom Umgang mit Wehrdienstverweigerung (1994), über strafrechtliche Antiterrormaßnahmen (2002) und dem sogenannten Mafiaparagrafen (§ 278 StGB) (2008, 2010, 2011) bis hin zu Demonstrationen und Protesten im öffentlichen Raum (2016, 2023).

Auch Gerichte setzten sich in den vergangenen Jahren immer wieder mit Fällen auseinander, in denen Aktionen zivilen Ungehorsams zu beurteilen waren. Davon zeugen u. a. Gerichtsurteile in Österreich (z. B. zum Tierschutz [2013]), Deutschland (z. B. zum Tierschutz [2018], Baumbesetzung wegen Klimanotstand [2022]) oder der Schweiz (z. B. Klimaaktivist:innen, die in einer Bankfiliale Tennis spielten [2021]). In letzterem Fall ging es etwa um die Frage, ob die entsprechenden Aktionen aufgrund einer „unmittelbaren Gefahr“ durch Notstand gerechtfertigt werden können. Das erstinstanzliche Gericht nahm einen gerechtfertigten Notstand – in Reaktion auf die Klimaerwärmung – an. Das Schweizer Bundesgericht verneinte dies jedoch in letzter Instanz. Derzeit ist der Fall am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig. Mit Blick auf die deutsche Judikatur zu strafrechtsrelevanten Protestaktionen von Klimaaktivist:innen schreibt etwa der Strafrechtler Lutz Eidam (2023), dass noch keine „gemeinsame Linie“ der Gerichte erkennbar sei.

Worauf zielt ziviler Ungehorsam ab?

Individuen und Gruppen, die zivilen Ungehorsam ausüben, sehen den Rahmen demokratisch institutionalisierter Instrumente ausgeschöpft. Dazu zählen neben Presse- und Meinungsfreiheit einerseits die Möglichkeit, Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit Verfassung und Grundrechten prüfen zu lassen, sowie andererseits der politische Wettbewerb an sich (siehe Braune 2017, S. 10). Politische Änderungen sind nach Meinung dieser Individuen und Gruppen unwahrscheinlich und/oder die Dringlichkeit eines Problems verlangt aus ihrer Sicht nach anderen Mitteln.

Die Motivation hinter diesen Aktionen ist immer eine bestimmte Form der Ungerechtigkeit – in Anbetracht historisch bekannter Beispiele (s. u.) z. B. des politischen Systems gegenüber bestimmten Gruppen (Frauen, Afroamerikaner:innen etc.), einer Kolonialmacht gegenüber der lokalen Bevölkerung oder wirtschaftlicher und ökologischer Entwicklungen gegenüber zukünftigen Generationen (Stichwort Generationengerechtigkeit). Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Bürger:innen das Recht haben, nicht zu gehorchen, wenn die Regierenden fundamentale Aufgaben nicht erfüllen, wie z. B. alle Menschen gleich zu behandeln oder die Auswirkungen des Klimawandels zu reduzieren.

Ziviler Ungehorsam in der Geschichte

Als Urvater des zivilen Ungehorsams wird oft Henry David Thoreau genannt. Er musste 1846 im US-Bundesstaat Massachusetts aufgrund seiner Weigerung, ausstehende Steuern zu zahlen, eine Nacht im Gefängnis verbringen. In einem Essay, in dem er sich mit den Rechten und Pflichten des Individuums gegenüber der Regierung beschäftigt, bezieht er sich auf diese Erfahrung. Unter dem heute gängigen Titel „Civil Disobedience“ (= ziviler Ungehorsam) erschien dieser Essay erst vier Jahre nach seinem Tod (Thoreau 1849). Er gilt als wichtiger Referenzpunkt für eine Reihe (zivil-)gesellschaftlicher Bewegungen, die zivilen Ungehorsam einsetzten.

Die Politikwissenschaftler Scherhaufer et al. (2021) zählen ein paar der prominentesten Beispiele auf: die Suffragetten-Bewegung für ein allgemeines Frauenwahlrecht Anfang des 20. Jahrhunderts im Vereinigten Königreich und den USA, der gewaltlose Widerstand („Satyagraha“) der indischen Unabhängigkeitsbewegung rund um Mahatma Gandhi, die antikolonialistische Bewegung der Igbo-Frauen in Nigeria, die Bürgerrechtsbewegung rund um Rosa Parks oder Martin Luther King Jr. in den USA oder in jüngerer Vergangenheit die Occupy-Wall-Street-Bewegung 2011 und diverse Umweltbewegungen vor allem im Vereinigten Königreich und in Frankreich.

Theoretische Überlegungen

Grundsätzlich existiert ein breites Spektrum an Möglichkeiten, wie Menschen bzw. Gruppen in Demokratien ihre politische Meinung zum Ausdruck bringen können. Je nach demokratietheoretischer Perspektive werden manche als legitime Teilhabe an politischen Entscheidungsfindungsprozessen gesehen, andere nicht. Vertreter:innen partizipativer Konzepte von Demokratie argumentieren, dass neben fairen und wiederkehrenden Wahlen (zum Konzept der repräsentativen Demokratie siehe z. B. Beetham 1992) sowie öffentlichen Diskursen und gut informierten Entscheidungen (zum Konzept der deliberativen Demokratie siehe z. B. Landwehr 2012) auch Ermächtigung, Vertrauen, Transparenz und Selbstbestimmung wichtige Kriterien für die Qualität von Demokratie sind (siehe dazu z. B. Barber 1984). Inwiefern ziviler Ungehorsam dazu beiträgt, diese Kriterien zu erfüllen, ist Gegenstand laufender Diskussionen.

Für Thoreau (1849) steht vor allem das Individuum im Mittelpunkt, welches seine Lebensumstände frei gestalten können muss. Kann das Individuum bestimmte Entwicklungen, die der Staat zulässt oder sogar befördert, aus Gewissensgründen nicht mittragen, hat es das Recht – wenn nicht sogar die Pflicht – dem Staat den Gehorsam aufzukündigen. Der Philosoph John Rawls (1971) zeigt auf, dass ziviler Ungehorsam als letztes Mittel gewählt wird, wenn Bemühungen auf institutionellem Wege gescheitert sind. Ihm zufolge ist dabei zentral, dass mit den entsprechenden Aktionen ein symbolischer Appell an das Rechtsempfinden der gesellschaftlichen Mehrheit gerichtet wird. Das bedeutet aber nicht zugleich, dass die Öffentlichkeit ad hoc damit einverstanden sein muss.

Daraus ergibt sich die Frage, wann eine Ungerechtigkeit so groß ist, dass sie Verstöße gegen Gesetze rechtfertigt, und daran anschließend, ob sich Aktionen zivilen Ungehorsams innerhalb des Verfassungsrahmens demokratischer Gesellschaften bewegen und/oder bewegen müssen. Diesbezüglich wird oft das Argument ins Treffen geführt, dass sie dies ohnehin tun, weil jene, die ein Gesetz verletzen oder übertreten, die dafür vorgesehene Strafe in Kauf nehmen. Hannah Arendt (1972) hingegen gibt zu bedenken, dass eine persönliche Gewissensentscheidung („Ich kann es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, diesem Gesetz zu gehorchen, akzeptiere aber die Strafe wegen meines Verstoßes dagegen.“) nicht die einzige mögliche Rechtfertigung für zivilen Ungehorsam sein kann. Da Bürger:innen durchaus selbst in der Lage sind, zu urteilen und dementsprechend politisch zu handeln, können diese Handlungen unter Umständen einfach „nur“ als Beitrag zu gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Aushandlungsprozessen verstanden werden.

Im deutschsprachigen Raum schließt daran v. a. Jürgen Habermas (1983) an. Er betont, dass sich Politik und Justiz diesen Handlungen stellen müssen und sich nicht hinter einer Mentalität von „Gesetz ist Gesetz“ verstecken dürfen. Demokratie entwickelt sich stetig weiter und ziviler Ungehorsam kann eine Art Kontrollinstanz sein und so zur Willensbildung einer demokratischen Gesellschaft beitragen.

Auch die Überlegungen des Philosophen Étienne Balibar (2009) schließen an Hannah Arendt an. Er geht davon aus, dass Bürger:innen in der Lage sind, selbst Verantwortung zu übernehmen. Einem radikaleren Verständnis von Demokratie folgend, legt Balibar allerdings besonderen Wert auf Dissens als zentraler Grundlage von Politik. Da auch Aktionen außerhalb des Rechtsrahmens Teil dieses Dissens sind, sind sie ebenso Teil der Entwicklung demokratischer Gesellschaften.

Diesem Verständnis stehen Überlegungen aus der Rechtsphilosophie gegenüber, welche sich mit der Frage auseinandersetzen, ob es ein Recht auf zivilen Ungehorsam gibt. Elisabeth Holzleithner (2020) verneint diese Frage mit dem Hinweis, dass in Rechts- und Verfassungsstaaten das Recht auf Widerstand nicht vorgesehen ist. Der „intakte Rechtsstaat“ sieht im Rahmen der Grundrechte ausreichend Möglichkeiten vor, Unmut zu äußern. Die Antwort auf die Frage, ob ein Verhalten legal ist, muss innerhalb dieses Rahmens allerdings nicht gleich lauten wie die Antwort auf die Frage, ob das besagte Verhalten legitim ist.

Aktuelle Debatten und Fragen

Nehmen politische Debatten auf zivilen Ungehorsam Bezug, drehen sie sich ganz grundlegend um zwei Fragen, wie zum Beispiel auch in den oben erwähnten parlamentarischen Materialien nachgelesen werden kann. Erstens: Wie weit darf politischer Protest gehen? Zweitens: Besteht die Gefahr, dass das Vorgehen von Exekutive und Judikative gegen diesen Protest politisch motiviert ist?

Darauf aufbauend werden folgende Punkte diskutiert:

  • Ab wann gilt ziviler Ungehorsam als gewaltsam und ist damit nicht mehr zu rechtfertigen? Ist z. B. Eigentums- und Sachbeschädigung Gewalt (siehe z. B. Ziviler Ungehorsam bei Klimaprotesten)?
  • Muss die Mehrheit der Gesellschaft hinter den Aktionen stehen? Inwieweit geht es darum, öffentliche Aufmerksamkeit für ein bestimmtes Problem zu generieren, oder darum, Akteur:innen, die gegen eine bestimmte Form der Ungerechtigkeit auftreten, zu einen und zu stärken (zum Stichwort Empowerment siehe Celikates 2013, S. 15)?
  • Wird manchen Gruppen eher das Recht auf zivilen Ungehorsam zugestanden als anderen (siehe z. B. Rechtsradikalismus: Ist gewaltloser Protest per se linksliberal?)?
  • Gelten nur Aktionen im physischen öffentlichen Raum (z. B. auf der Straße) als ziviler Ungehorsam? Was gilt in der Informationsgesellschaft überhaupt als öffentlicher Raum? Wie steht es um anonyme kollektive Handlungen, die im Verborgenen stattfinden (zum Stichwort Computerattacken, z. B. Denial-of-Service-Attacken, siehe de Lagasnerie 2016,  S. 65)?

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