Fachinfos - Fachdossiers 18.10.2021

Wertschätzung gegenüber dem ländlichen Raum im Zuge der COVID-Pandemie

Im Zusammenhang mit einer parlamentarischen Enquete befasst sich das Fachdossier mit den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf das Bewusstsein der Menschen in Bezug auf die Wiederbelegung der Wertschätzung für den ländlichen Raum. (18.10.2021)

Hat sich die Einstellung gegenüber dem ländlichen Raum im Zuge der COVID-19-Pandemie geändert?

Mit Fortdauer der COVID-19-Pandemie beschäftigen sich Menschen, Politik und Wissenschaft mit den möglichen Auswirkungen auf die Zeit danach. Der Bundesrat widmet sich in einer parlamentarischen Enquete am 20. Oktober 2021 diesem Thema und diskutiert diesbezüglich eine mögliche „Neue Wertschätzung für den ländlichen Raum“.

Dieses Fachdossier bietet einen Überblick über mögliche Fragestellungen, die in diesem Zusammenhang diskutiert werden können (ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu stellen). Diese werden aus den Ergebnissen des sogenannten Austrian Corona Panel Project (ACPP) abgeleitet. Aufgrund der regelmäßigen Befragung derselben ausgewählten Personen (Panelumfrage) zeichnet das Forschungsprojekt ein für Österreich einzigartiges Bild davon, wie sich Wahrnehmungen und Empfindungen sowie der Umgang mit politischen Maßnahmen während der COVID-19-Pandemie und die Reaktionen darauf entwickelten.

Das Austrian Corona Panel Project (ACPP)

WissenschafterInnen der Universität Wien aus verschiedenen Disziplinen beantworten im Rahmen dieses Projekts Fragen, die sich mit Bedrohungen auf gesundheitlicher und wirtschaftlicher Ebene, politischen Maßnahmen sowie demokratiepolitischen und kommunikativen Herausforderungen der COVID-19-Krise beschäftigen.

Auf Basis der daraus gewonnenen Erkenntnisse lässt sich vorläufig der Schluss ziehen, dass zentrale Themen im Zusammenhang mit den möglichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie vor allem mit dem geänderten Bewusstsein der Menschen in Bezug auf die Arbeitswelt sowie die Wohnsituation zusammenhängen.

Wie werden Auswirkungen der COVID-19-Pandemie wahrgenommen?

Öffentliche Debatten beschäftigen sich zunehmend mit der Frage, ob sich die Erfahrungen mit der Pandemie auf das Gefälle zwischen Stadt und Land auswirken und vielleicht sogar dem lange postulierten Urbanisierungstrend, also der zunehmenden Dominanz städtischer Lebensformen, entgegenwirken. Beispielsweise stellt das deutsche Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung für Deutschland eine verstärkte Binnenwanderung von Großstädten in Richtung ballungsnaher Umlandgemeinden fest (Suburbanisierung). Allerdings seien dafür bis dato vor allem steigende Mieten verantwortlich. Ob die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie diese Tendenz eventuell verstärken, müsse noch weiter beobachtet werden. Trotzdem stellen Medien und SozialwissenschafterInnen die Frage, ob Menschen nun zurück aufs Land ziehen und ob es vielleicht zu einem Ende des Städtischen kommt, wonach der ländliche Raum aufgrund der geringen Siedlungsdichte, der Nähe zur Natur und der überschaubaren sozialen Kontakte zunehmend als Alternative zum riskanten Leben in Großstädten erscheint.

Momentan scheint nach Ansicht der renommierten Soziologin Saskia Sassen, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), und ihrer Kollegin Karima Kourtit vor allem eines sicher: Es ist noch zu früh, definitive Schlüsse zu ziehen – zumindest solange die Pandemie noch nicht vorbei ist. Einstweilen, so argumentieren sie, erscheine es unwahrscheinlich, dass sich der Trend in Richtung städtischer Lebensweisen extrem umkehrt. Demnach ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Bevölkerungszahlen von Metropolen auch weiterhin wachsen, vor allem durch den Zuzug junger Menschen sowie Migration aus dem Ausland. Das bedeutet allerdings nicht, dass nicht gleichzeitig die Vororte rund um diese Metropolen auch weiterhin an Beliebtheit gewinnen werden, vor allem um den hohen Lebenshaltungskosten sowie negativen Auswirkungen auf die eigene Gesundheit (z. B. infolge von Hitzeinseln) zu entgehen, ohne auf die Vorzüge einer Stadt (z. B. Arbeitsplätze, Infrastruktur, Freizeitangebote) verzichten zu müssen.

Arbeitswelt

Vor allem in jenen Phasen, in denen es zu restriktiven Einschränkungen des öffentlichen Lebens kam, wurde das Arbeiten von zu Hause (Homeoffice) für all jene zur Regel, deren Anwesenheit am Arbeitsplatz nicht zwingend notwendig war. Elektronische Kommunikation ersetzte einen großen Teil der Besprechungen und Dienstreisen. Dadurch wurden Möglichkeiten und Grenzen neuer Arbeitsarrangements aufgezeigt. Die Möglichkeit, vermehrt von zu Hause sowie autonomer und flexibler zu arbeiten, ist dadurch im Bewusstsein von sowohl ArbeitnehmerInnen als auch ArbeitgeberInnen angekommen.

Ein besonders großer Anteil jener, die vermehrt im Homeoffice arbeiteten, war in den Branchen Finanz- und Versicherungsdienstleistungen sowie Information und Kommunikation beschäftigt – Branchen, die räumlich stark in städtischen Regionen verankert sind. Die geringsten Veränderungen in Bezug auf ihren gewohnten Arbeitsmodus erfuhren hingegen Beschäftigte in der Land- und Forstwirtschaft (neben den Branchen Gesundheitswesen, öffentliche Verwaltung und sonstigen Dienstleistungen).

Fragen, die sich daraus ergeben, zielen vor allem auf die Möglichkeiten ab, die der ländliche Raum jenen Menschen bietet, deren Arbeitsalltag sich offensichtlich ändern lässt bzw. bereits entsprechend geändert hat. Vorausgeschickt werden muss Folgendes: Es ist noch nicht vorherzusehen, ob sich die Entwicklung der weniger ortsgebundenen und dadurch dezentralisierten Arbeit manifestiert oder aber wieder umkehrt, sobald die Lebensumstände nicht mehr (so stark) durch COVID-19 bestimmt werden. Trotzdem müssen die infrastrukturellen Voraussetzungen gegeben sein, bevor es für Menschen überhaupt zu einer realistischen Option wird, den Arbeitsplatz (teilweise) ins Homeoffice am Land zu verlagern. In erster Linie betrifft das die technischen Möglichkeiten (vor allem eine stabile Internetverbindung, Stichwort Digitalisierung) und ein umfassendes Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen (auf Vollzeitbasis). Darüber hinaus ist auch eine einfache, schnelle und leistbare Verkehrsanbindung an städtische Zentren von großer Bedeutung, da der Arbeitsalltag in den meisten Fällen nach wie vor nicht gänzlich ohne Präsenz auskommen wird. Ähnliche Fragestellungen standen im Zentrum der Jahrestagung 2020 des LEADER-Programms der EU, welches die Förderung des ländlichen Raums zur Aufgabe hat. Unter dem Titel „Digitalisierung: Neue Chancen für ländliche Regionen?“ kamen ExpertInnen zu dem Schluss, dass eine Verbesserung dieser Rahmenbedingungen im Zusammenhang mit flexiblen Arbeits(zeit)modellen vor allem auch dazu beitragen würde, das Potenzial weiblicher Arbeitskräfte insgesamt, also auch für den städtischen Raum, besser zu nutzen.

Wohnsituation

Auch die privaten Lebensumstände rückten vermehrt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. So wurde der Bedarf nach Freiflächen, der besonders bei StadtbewohnerInnen in kleinen Wohnungen oft nicht gedeckt ist, offensichtlich. Während der restriktiven Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID-19 ab dem 16. März 2020 wurden auch Parks und Spielplätze geschlossen, wodurch in Österreich jedes zehnte Kind ohne wohnortnahe Grünfläche war. Das ist vor allem insofern problematisch, als 20 % der Kinder in Österreich in beengten Wohnverhältnissen leben.

Ähnlich wie bei den Entwicklungen in Bezug auf die Arbeitswelt muss festgehalten werden, dass diese Probleme vermehrt Menschen betreffen, die in städtischen Räumen wohnen. Es stellt sich also auch hier die Frage, ob diese Erkenntnisse nachhaltig zu einem Umdenken hinsichtlich der Wahl des Wohnorts beitragen können. Neben den oben erwähnten Voraussetzungen (Digitalisierung, Kinderbetreuung, Verkehrsanbindung) wäre dafür ein entsprechendes Angebot an Wohnraum vonnöten, welches einen Wechsel des Wohnorts überhaupt denk- und leistbar macht. Das bedeutet zum Beispiel ein ausreichendes Angebot an Mietwohnungen. Gegenwärtig besteht ein starkes Stadt-Land-Gefälle in Bezug auf die Wohnverhältnisse: Während 2016 etwa 50 % der Haushalte in Wohnungs- oder Hauseigentum lebten, waren es in Wien nur ca. 20 %. Momentan zeichnet sich ein entsprechender Trend in Richtung eines geänderten Angebots (noch) nicht ab. GeografInnen geben diesbezüglich zu bedenken, dass die Möglichkeit, sich zwischen städtischen und ländlichen Wohnsitzen zu entscheiden, neben flexiblen Arbeitsverhältnissen vor allem ein entsprechendes Einkommen voraussetzt. Demzufolge steht diese Option gegenwärtig hauptsächlich jenen Menschen offen, die ohnehin nicht auf beengtem Raum wohnen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass momentan sowohl in öffentlichen als auch in wissenschaftlichen Debatten viele Fragen aufgeworfen werden, die noch nicht beantwortet werden können. Dabei stehen mögliche Änderungen der Einstellung gegenüber dem ländlichen Raum oft noch gar nicht im Zentrum. So werden beispielsweise Fragen, die im Rahmen des Austrian Corona Panel Project diskutiert werden, zwar im Hinblick auf demografische Charakteristika wie Bildung, Geschlecht und Haushaltseinkommen differenziert, mögliche Unterschiede zwischen BewohnerInnen ländlicher und städtischer Regionen finden aber nur am Rande Erwähnung. Umso wichtiger ist es, sich fundiert mit möglichen Chancen und Risiken für ländliche Regionen infolge der COVID-19-Pandemie auseinanderzusetzen.

Hinweis auf die parlamentarische Enquete:

  • Thema: „Postcorona – Neue Wertschätzung für den ländlichen Raum“
  • Ort: Großer Redoutensaal in der Hofburg
  • Zeit: 20.10.2021, 9.15 bis 13.15 Uhr
  • Link zur Tagesordnung

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