Parlamentskorrespondenz Nr. 660 vom 16.10.1998

ENQUETE: DIE REFERENTEN UND IHRE MEINUNG ZU DISSENTING OPINION

Pro- und Contra-Argumente

Wien (PK) - Prominente Referenten gaben im Rahmen der parlamentarischen Enquete ihre Stellungnahme ab. So stellte Dr. Rudolf MACHACEK, langjähriges Mitglied des VfGH, einen internationalen Vergleich der Einrichtung der dissenting opinion an und hielt fest, dass sich der Anwendungsbereich dieses Rechtsinstituts in den letzten Jahren ständig erweitert habe und, soweit bekannt, in keinem Staat, in dem es einmal eingeführt wurde, wieder beseitigt worden sei.

Die dissenting opinion hat sowohl im amerikanischen Rechtskreis als auch im Rechtskreis der Commonwealthstaaten weite Verbreitung und ist z.B. in Argentinien, Brasilien oder Chile genauso zulässig wie in Japan, Kanada, Südafrika und Israel. Aber auch an fast allen Verfassungsgerichten der Nachfolgestaaten der Sowjetunion und der anderen neuen Demokratien in Mittel‑ und Osteuropa besteht die Möglichkeit der Abgabe von Minderheitsvoten, so in der Mongolei, Georgien, Kroatien, Slowenien oder Ungarn. Besonders lange Tradition hat die dissenting opinion in den USA und in England. Der Supreme Court der USA hat von Anbeginn an nie die Zulässigkeit der Abgabe eines Minderheitsvotums in Frage gestellt, dort setzten sich die "Dissenter" mit ihrer Rechtsmeinung sogar wiederholt in späteren Rechtsfällen durch.

Unterschiedlich ist die Situation in den westlichen Demokratien Europas. Während etwa in Norwegen jeder Richter des Obersten Gerichtshofes sein Votum verkündet und neben Deutschland auch in Schweden oder Dänemark die Publizität abweichender Meinungen voll gesichert ist, werden u.a. in Spanien, Finnland, Portugal, Belgien und Griechenland Minderheitsvoten nicht veröffentlicht. In Italien ist eine dissenting opinion nicht vorgesehen, die Mitglieder des Corte Constitutionale publizieren ihre abweichenden Meinungen jedoch in juristischen Fachzeitschriften. Für Österreich gilt, dass die Verfassungsrichter grundsätzlich der gleichen Schweigepflicht wie die Richter anderer Kollegialgerichte unterliegen, überstimmte Richter können die Begründung ihrer abweichenden Meinung nur dem geheimen Beratungsprotokoll beifügen.

Machacek legte ein Bekenntnis zur dissenting opinion am VfGH ab und erklärte, er selbst hätte bei Bestehen entsprechender Möglichkeiten davon Gebrauch gemacht. "Die Vertiefung der Rechtsprechung, das verbesserte wissenschaftliche Verständnis, aber auch das erhöhte internationale Echo der Judikatur eines Verfassungsgerichts mit einer dissenting opinion sind keine Schimäre", heisst es in einem von ihm vorgelegten Papier. Dass Richter, die bei der Beratung um ihre Meinung ringen, die Bekanntgabe von Gegenmeinungen als Schwächung der Autorität der Mehrheitsmeinung empfänden, sei kein überzeugendes Argument, zumal es, so Machacek, im internationalen Vergleich durch nichts zu verifizieren ist. Eine Pflicht, eine dissenting opinion zu verfassen, gebe es ohnedies nicht, und zwar nach keinem System.

Ausdrücklich wies der ehemalige VfGH‑Richter darauf hin, dass sich nirgends ein Hinweis auf einen politischen Missbrauch des Instituts der dissenting opinion ergeben habe. Die dissenting opinion sei ein Teil der Rechtskultur geworden, auf diesen Baustein sollte seiner Ansicht nach nicht verzichtet werden. Für denkbar hält Machacek, dass die dissenting opinion am VfGH zunächst mit einer dreijährigen Probezeit eingeführt wird.

Dr. Jutta LIMBACH, Präsidentin des Deutschen Bundesverfassungsgerichtes, wies in ihrem Referat darauf hin, dass seit der Einführung des Sondervotums vor 28 Jahren nur sehr sparsam von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht worden sei. Aus einer von ihr vorgelegten Statistik geht hervor, dass es in den Geschäftsjahren 1971 bis 1991 insgesamt 1.636 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes gegeben hat, zu lediglich 105 wurde ein Sondervotum abgegeben. Sondervoten hätten dann Konjunktur, meinte Limbach, wenn sich konfliktträchtige Themen oder Entscheidungen in einem Zeitraum häufen. Ob es zu Sondervoten komme, hänge also von der Bedeutung der Verfassungsfrage und des Konfliktstoffes ab, Eitelkeit und Selbstgerechtigkeit oder aber die politische Heimat bzw. das Rechtsverständnis des Richters spielten entgegen früheren Befürchtungen eine geringe Rolle. Auch feste Blockbildungen liessen sich nicht nachweisen. Limbach selbst hat, wie sie erklärt, in ihren Amtsjahren viermal dissentiert.

Fassbare Nachteile von Sondervoten lassen sich der Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes zufolge nicht erkennen. Die nicht gerade häufigen Sondervoten gehörten zum Alltag, konstatierte sie, selbst die Skeptiker dieses Instrumentes betrachteten es mit einiger Gelassenheit. Überhaupt keine Anhaltspunkte gebe es dafür, dass den Mehrheitsentscheidungen des Gerichts bei Beigabe von Sondervoten der Respekt aufgekündigt würde. Auch zu einer "resignativen Flucht in den Dissens" führe die dissenting opinion nicht, im Gegenteil würde besonders intensiv verhandelt, wenn ein Richter ein Sondervotum ankündige. Schliesslich sieht Limbach keinen Hinweis darauf, dass es durch die Einführung des Minderheitsvotums zu neuen Abhängigkeiten der Richter von der Politik gekommen sei.

Verneint wird von Limbach die Frage, ob von den Sondervoten in Deutschland ein grosser rechtspolitischer Impuls ausgegangen ist. Es gebe lediglich zwei Fälle, wo ein seinerzeitiges Minderheitsvotum später zu einem Mehrheitsvotum wurde.

Zusammenfassend folgert die Referentin, dass Sondervoten der Transparenz der Rechtsfindung dienten. Die heutigen Staatsbürger seien reif genug zu begreifen, dass Meinungsunterschiede allenthalben und allerorten ausgetragen werden, dass aber Mehrheitsentscheidungen in der Demokratie zu respektieren seien.

Zu einem divergierenden Fazit kam hingegen Dr. Peter Alexander MÜLLER, Präsident des Schweizer Bundesgerichts. Er kam einleitend auf die Devise in der Schweiz zu sprechen, die laute: Individualität in der Beratung und Solidarität gegenüber dem Urteil. Das Institut der dissenting opinion sei der Schweizer Rechtsprechungstradition fremd.

Müller machte in diesem Zusammenhang aber auf zwei Besonderheiten der richterlichen Entscheidungsfindung beim Schweizer Bundesgericht aufmerksam. Zum einen würden die bundesgerichtlichen Beratungen öffentlich abgehalten, zum anderen verfasse nicht der Richter, sondern der Gerichtsschreiber die Urteilsbegründung. Somit könne das Publikum "live" miterleben, wie und mit welchen Argumenten bzw. Gegenargumenten es zur Entscheidungsfindung komme. Der Gerichtsschreiber wiederum habe bei der Urteilsbegründung nicht nur die Beratungen heranzuziehen, sondern auch die bisherige Rechtsprechung. Und er sei angehalten, die geäusserten Gegenargumente in die Urteilsbegründung miteinfliessen zu lassen.

Müller zufolge liegt dem Schweizer Nationalrat derzeit ein Gesetzesantrag auf Einführung einer dissenting opinion am Schweizer Bundesgericht vor, er begrüsst allerdings die ablehnende Haltung des Bundesrates zu dieser Frage. Nach Auffassung von Müller ist durch die öffentliche Beratung die Publizität der unterschiedlichen Meinungen ausreichend gewährleistet, auch sei durch nichts belegt, wonach die Minderheit von heute quasi die Prophetin der künftigen Entwicklung der Rechtsprechung sei. Eine Gerichtsmehrheit, der es um eine seriöse Entscheidungsfindung gehe, setze sich zudem mit den Minderheitsauffassungen unabhängig davon auseinander, ob es das Institut der dissenting opinion gebe oder nicht. Der Präsident des Schweizer Bundesgerichtes ortet vielmehr die Gefahr, dass sich die Minderheit mit der Mehrheitsmeinung nicht genügend auseinandersetzt, wenn sie weiss, dass sie sich mit ihrer Auffassung "ein Denkmal setzen kann".

Müller zieht daher den Schluss, dass es mehr Argumente gegen die Wiedergabe von Minderheitsauffassungen des Schweizer Bundesgerichtes gibt als dafür. Wäre er vor die Alternative gestellt, sich zwischen der öffentlichen Beratung und der Veröffentlichung abweichender Meinungen entscheiden zu müssen, fiele seine Wahl auf die öffentliche Beratung.

Univ.‑Prof. Dr. Christoph GRABENWARTER berichtete von den praktischen Erfahrungen mit der dissenting opinion beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und meinte, in dieser Form des Sondervotums finde häufig ein Dialog zwischen Richtern und Mitgliedstaaten statt, welcher die Akzeptanz der Urteile jedenfalls durch die Regierungen der Mitgliedstaaten insgesamt erhöhen dürfte.

Die dissenting opinion habe beim Europäischen Gerichtshof seine Berechtigung und erfülle zahlreiche Funktionen, die überwiegend in der besonderen Stellung dieses Gerichtshofes als internationales Gericht begründet sind. Dies gelte vor allem für die Spezifika verschiedener betroffener Rechtssysteme, eines Kammersystems, einer Übersetzungsfunktion für das eigene Land oder der Vereinheitlichung unterschiedlicher nationaler Grundrechtstraditionen ‑ Spezifika, die beim österreichischen Verfassungsgerichtshof nicht gegeben sind. Die Strassburger Erfahrungen seien jedenfalls vor einem gänzlich anderen rechtlichen und politischen Hintergrund gemacht worden und eignen sich nicht zu Bezügen auf die österreichische Praxis.

Dr. Peter JANN, Mitglied des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, setzte sich mit dem Thema "Entscheidungsbegründung am Europäischen Gerichtshof" auseinander. Abweichende oder zustimmende Sondervoten sind beim Europäischen Gerichtshof nicht vorgesehen. Es besteht nach einhelliger Meinung der Richter derzeit kein Anlass, diese Regelung in Frage zu stellen und eine dissenting opinion einzuführen, betonte er.

Die Möglichkeit der abweichenden Stellungnahme würde eine erhebliche Verfahrensverlängerung nach sich ziehen und zudem die breite Akzeptanz der Entscheidungen und den kollegialen Charakter des Gerichtshofes gefährden. Minderheitsmeinungen werden von der Mehrheitsmeinung ohnehin in den Prozess der Urteilsfindung miteingebracht. Jedes Urteil ist somit das Ergebnis gemeinsamer Rechtssuche und Rechtsfindung. Jann hat, wie er meinte, nicht den Eindruck, dass die Qualität von Entscheidungen durch abweichende Meinungen verbessert werden könnte. Das wahre Problem der Gerichtshöfe bestehe vielmehr im ständigen Kampf zwischen Qualität und Quantität, gab er zu bedenken.

Univ.‑Prof. DDr. Heinz MAYER sprach zur Frage der Einführung der dissenting opinion aus der Sicht der österreichischen Verfassungslehre und unterstrich, die Schaffung der Möglichkeit dieser abweichenden Stellungnahme sei ein Gebot der Stunde. Er führte dazu vor allem demokratietheoretische Erwägungen an. Der Verfassungsgerichtshof nehme mit seinen Entscheidungen weitreichende politische Gestaltungsbefugnisse in Anspruch und sollte sich daher zur Offenheit bekennen.

Auch könnte die Qualität der Entscheidungen durch die Auseinandersetzung mit einer abweichenden Meinung, die später publiziert werden kann, gehoben werden. Mayer glaubte nicht, dass ein Separatvotum von politischen Instanzen dazu benutzt würde, um in die Judikatur einzugreifen. Die Verfassungsrichter sind beruflich mit Garantien ausgestattet, die sonst niemand hat, sie würden also nichts riskieren, betonte er.

Univ.‑Prof. Dr. Heinz SCHÄFFER hielt zu diesem Thema fest, ein verfassungsrechtlicher Zwang zur Einführung der dissenting opinion bestehe in Österreich nicht. Ein Minderheitsvotum sei nicht schlechthin abzulehnen. Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit Einzelentscheidungen sollten aber kein Anlass sein, die bewährten Beschlussfassungsregeln zu opfern. Transparenz als demokratiepolitisches Postulat treffe für die politische Willensbildung im Parlament zu. Im Gegensatz dazu haben Gerichtsurteile einen Rechtsstreit verbindlich zu entscheiden. Verfassungsrichter sind jedenfalls dem Recht und nicht einzelnen Gruppen verpflichtet.

Ein Zwang zur Sichtbarmachung der Rechtsauffassung könnte sich, wie Schäffer meinte, gegen die Unbefangenheit und Unbeeinflussbarkeit einzelner Mitglieder des VfGH richten und politische Erwartungshaltungen auslösen. Urteile, die in Wertungsfragen unterschiedliche Positionen beziehen, würden den notwendigen Grundkonsens nicht gerade stärken, sondern eher die Akzeptanz beeinträchtigen und einer weiteren Polarisierung Vorschub leisten, vermerkte er. (Fortsetzung)