Parlamentskorrespondenz Nr. 379 vom 05.05.2009

Harald Reisenberger: Erinnerung an die Opfer wachhalten

Wortlaut der Rede bei der Gedenkveranstaltung im Parlament

Wien (PK) – Die Parlamentskorrespondenz dokumentiert den Wortlaut der Rede, die der Präsident des Bundesrats, Harald Reisenberger, bei der Gedenkveranstaltung im Parlament gehalten hat.

 

Der Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus findet nun bereits seit über zehn Jahren statt. Wenn ich heute eine Umfrage in diesem Saal machen würde, so würden Sie mir alle bestätigen, wie wichtig öffentliches Gedenken ist. Viele von Ihnen – ebenso wie ich selbst – würden darauf hinweisen, dass wir eine Verpflichtung haben, die Erinnerung an die Opfer wach zu halten und das, was sie durchlitten haben, nie zu vergessen. Wir würden auch betonen, wie wichtig das Wissen um Geschichte für das Verständnis unserer Demokratie und der Menschenrechte ist. Und schließlich würden wir hinzufügen, dass das in einer Zeit, in der antisemitische und rechtsextreme Äußerungen und Taten auch in Österreich wieder zunehmen, von grundlegender Bedeutung sei.

Vor etwas mehr als einem Jahr wurde tatsächlich eine solche Umfrage gemacht und in einer Studie ausgewertet. Abgeordnete zum Nationalrat und zu den Landtagen, Mitglieder des Bundesrates sowie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wurden von "erinnern.at", einem Vermittlungsprojekt des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur, für Lehrende an österreichischen Schulen, das wir gar nicht hoch genug schätzen können, und dem Historiker Robert Streibel dazu befragt, wie sie es mit Erinnern und Gedenken halten. Ich erachte diese Studie für sehr wichtig, und ich wundere mich zugleich darüber, dass sie – selbst im sogenannten Gedenkjahr 2008! – nur wenig Beachtung erfahren hat. Auch unter uns Politikerinnen und Politikern wurde sie nie breiter diskutiert.

Gerade dann, wenn wir uns darauf einstellen müssen, dass die Aufgabe des Gedenkens und Erinnerns immer mehr auf unsere nachgeborene Generation übergeht, dann sollten wir auch über unsere Rolle und Verantwortung als Politikerinnen und Politiker nachdenken. Egal wo ein Jubiläum begangen oder ein Gedenktag abgehalten wird, wir werden eingeladen, um Ansprachen zu halten. Das Spektrum ist weit und reicht vom örtlichen Kriegergedenken bis zur feierlichen Gedenksitzung im Parlament. Politikerinnen und Politiker sprechen als Vertreterinnen und Vertreter der Gemeinden, der Länder, der Republik und ihrer Partei. Von uns wird erwartet, dass wir etwas sagen. Wir werden damit zu Personen, die auf vielen Ebenen den Umgang mit Geschichte und Erinnerung prägen.

Wie Politikerinnen und Politiker zu dieser Aufgabe stehen, sollte mit der Studie von erinnern.at untersucht werden. Es fällt dabei zunächst auf, dass sich von insgesamt ca. 600 Mitgliedern des Nationalrates, des Bundesrates und der Landtage nur 30 Prozent an der anonymen Umfrage beteiligt haben – und das nach mehrmaligem Ersuchen um Antwort. Von zwei Parteien gingen nur so wenige Antworten ein, dass sie nicht ausgewertet werden konnten. Eine zweite Studie untersuchte die Gemeinden und erzielte spontan einen Rücklauf von fast 20 Prozent. Das sollte uns bereits nachdenklich stimmen.

Es fällt weiters auf, dass sich Beteiligung und Interesse an der Umfrage sehr nach Bundesländern unterscheiden. Besonders groß sind Interesse und Engagement demnach in Wien, Oberösterreich und der Steiermark. In manchen Bundesländern und Regionen scheint das Interesse hingegen sehr gering zu sein.

Entscheidend ist es aber, zu sehen, welche Einstellungen Politikerinnen und Politiker zu Gedenken und Erinnern haben. Es ist sicherlich keine Überraschung, dass diese Themen für wichtig erachtet werden. Aber wenn es darum geht, an wen und an welche Ereignisse wir öffentlich erinnern wollen und erinnern sollen, dann gibt es sehr unterschiedliche Meinungen. Einerseits wird von vielen die Meinung vertreten, dass Gedenken heute leichter wäre – die Gefahren, irgendwo anzuecken, jemanden zu vergraulen oder Konflikte zu provozieren, sind nicht mehr so groß. Andererseits wird aber zugegeben, dass man über vieles nicht Bescheid weiß. Es wird gesagt, dass man oft unsicher ist, in welcher Form man gedenken kann und gedenken soll. Und es bleibt offen, ob es nur die Zeit des Nationalsozialismus ist, derer man gedenken soll.

Diese Studie ist aber auch deshalb so interessant, weil eine große Mehrheit von Politikerinnen und Politikern findet, dass die Gemeinden, überregionale Organisationen und politische Parteien Gedenken und Erinnern organisieren und fördern sollen. Ebenso sollen die Schulen dafür Sorge tragen. Erst dahinter kommen Jugendorganisationen, Erwachsenenbildung und Religionsgemeinschaften.

Gemeinden, überregionale Organisationen, politische Parteien – das sind wiederum wir selbst! Doch viele geben zu, dass sie Gedenken und Erinnern vor allem ideell und finanziell unterstützen würden. Der eigene Beitrag tritt demgegenüber zurück.

Wenn wir uns an diesem Gedenktag mit Gedenkkultur und ihrer Bedeutung für Demokratie und Menschenrechte befassen, dann tun wir das im Bewusstsein, dass die Epoche, in der uns Zeitzeuginnen und -zeugen unmittelbar berichten konnten, zu Ende geht.

Ich komme aus der Gewerkschaftsbewegung und ich hatte noch die Gelegenheit, viele kennenzulernen, die sich in der Zeit der Verfolgung nicht haben unterkriegen lassen. Menschen, die Mut zum Widerstand hatten. Unseren jungen Mitgliedern bleibt diese Chance heute schon oft versagt.

Wir können selbstverständlich Bildungsangebote organisieren – und hier geschieht in ganz Österreich in der schulischen und außerschulischen Bildung, in Gemeinden, Gewerkschaften, Vereinen und Religionsgemeinschaften außerordentlich viel. Aber so wie die Menschen, die mir zum Vorbild geworden sind, so sind wir auch gefordert, dieses Wissen zu persönlichen Erfahrungen und damit zum Motor unseres politischen Engagements zu machen. Sonst bleibt es ein Faktenwissen – wie vielleicht jenes, dass Karl der Große im Jahr 800 zum Kaiser gekrönt wurde oder 1969 der erste Mensch den Mond betrat.

Wenn ich aber die Studie, die ich Ihnen vorgestellt habe, aufmerksam lese, und wenn ich bedenke, dass wir Politikerinnen und Politiker bislang kaum darüber diskutiert haben, dann werde ich nachdenklich, wie wir unsere Verantwortung wahrnehmen, wie weit uns das wirklich Anliegen ist.

Ich möchte den heutigen Gedenktag daher zu einem Aufruf dazu nützen, dass wir Politikerinnen und Politiker uns stärker mit unserer Rolle, unseren Aufgaben und unserer Verantwortung in Hinblick auf öffentliches Gedenken und Erinnern befassen. Engagierte Frauen und Männer in ganz Österreich sollten sich darüber austauschen und an Wissen, Sensibilität und Verantwortung gewinnen. - Das sind wir den Opfern schuldig, und das sind wir auch unseren Kindern schuldig. Das wollen wir um der Demokratie und der Menschenrechte willens tun.

HINWEIS: Fotos von der Gedenkveranstaltung finden Sie – etwas zeitverzögert – auf der Website des Parlaments im Fotoalbum : www.parlament.gv.at

(Schluss Wortlaut Reisenberger/Forts. Prammer)