Parlamentskorrespondenz Nr. 380 vom 05.05.2009

Barbara Prammer: Wir brauchen einen breiten moralischen Grundkonsens

Wortlaut der Rede bei der Gedenkveranstaltung im Parlament

Wien (PK) – Die Parlamentskorrespondenz dokumentiert den Wortlaut der Rede, die Nationalratspräsidentin Barbara Prammer bei der Gedenkveranstaltung im Parlament gehalten hat.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

Seit 1998 begehen wir den Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Er findet also heute zum 12. Mal statt und ist für uns ein jährlicher Fixpunkt geworden. Eben deswegen darf er nicht zum reinen Formalakt verkommen, zum bloßen Ritual, das im Wesentlichen nur der Rückschau dienen soll. Einer solchen Entwicklung würde ich aus tiefer Überzeugung entgegentreten.

Für mich ist der Gedenktag keine Pflichtübung und er darf auch niemals eine solche werden. Denn Gedenken ist mehr als Erinnerung. Das offizielle Österreich hat ohnedies erst in den neunziger Jahren nach mühsamen Debatten zu einer neuen selbstkritischen Position im Umgang mit der eigenen Vergangenheit gefunden. Zu einer Position der aktiven Auseinandersetzung und der Übernahme von Verantwortung. Ein Grundkonsens, dem manche nur durch Lippenbekenntnisse zu entsprechen versuchen. Ein Grundkonsens, der in Erklärungen bemüht wird, sich aber im realen Handeln oft nicht widerspiegelt.

Wir haben uns daher Fragen zu stellen. Zunächst die Frage, wie viele Bürgerinnen und Bürger diesen Grundkonsens tatsächlich mittragen und sich dafür auch einsetzen und engagieren? - Die Frage, ob die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte heute ausreichend geführt wird? - Ebenso stellt sich die Frage, welche Konsequenzen aus dieser Auseinandersetzung gezogen werden? - Treten wir beispielsweise Rassismus und Antisemitismus in unserer Gesellschaft wirklich entschieden genug entgegen?

Ich verweise hier auf Ereignisse, die uns die Aktualität dieser Fragestellungen leider drastisch vor Augen führen: Ich erinnere an die Schändung der Gedenkstätte Mauthausen erst vor wenigen Wochen. Oder an die nach wie vor vielen Verstöße gegen das Verbotsgesetz. Umso wichtiger ist es mir hervorzuheben, dass sich viele Menschen mit großem Engagement in Projekten aktiv mit der Zeitgeschichte auseinandersetzen. Gerade im Schulbereich wurden in den vergangenen Jahren wertvolle Initiativen gesetzt. So fördert zum Beispiel der Nationalfonds hervorragende zeitgeschichtliche Projekte und ich halte es für unverzichtbar, diese Unterstützung auch weiterhin auszubauen und zu garantieren.

Diese positiven Beispiele dürfen uns aber nicht übersehen lassen, wie viele Kinder und Jugendliche noch immer wenig über diese Zeit erfahren, wie viele Ältere die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus noch immer ablehnen. Wir dürfen nicht übersehen, wie über Generationen hinweg Geschichtsdeutungen und Werthaltungen weitergegeben werden, die ein historisch falsches Bild des Nationalsozialismus zeichnen. Aus diesem Grund dürfen wir uns – wie von Elie Wiesel gefordert – nicht nur mit dem bloßen Erinnern zufriedengeben, sondern müssen alles in die Gegenwart und damit in unseren Lebensalltag holen. Für mich bedeutet das, Ausgrenzung dort aufzuzeigen, wo sie immer noch oder schon wieder Platz greift, es heißt, konsequent gegen die Diskriminierung von Minderheiten aufzutreten, es heißt, Antisemitismus sowie Leugnung, Verharmlosung und vor allen Dingen die Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen nicht zuzulassen.

Nicht zuletzt haben wir uns damit auseinanderzusetzen, dass Entschädigungsleistungen weiterhin umstritten sind. Umso anerkennenswerter ist es, wenn trotz unklarer Entscheidungsgrundlagen vor wenigen Tagen in Linz mit der Rückgabe eines Klimt-Bildes ein sehr starkes Signal gesetzt wurde.

Die Demokratie ist mehr als die Summe von Institutionen einer Verfassung. Sie baut auf Prinzipien wie Toleranz, Respekt gegenüber Minderheiten und Zivilcourage. Sie baut auf dem festen Bekenntnis aller Bürgerinnen und Bürger, sich für diese Prinzipien einzusetzen. Dieses Bekenntnis ist in Zeiten wachsender Interessenskonflikte umso bedeutsamer. Wir wissen heute: Die Verstärkung der sozialen Missverhältnisse und die zunehmende Radikalisierung des politischen Klimas waren wesentliche Vorbedingungen für den Aufstieg des Faschismus.

Die Wirtschaftskrise in den dreißiger Jahren zeigt uns, wie Demokratie-gefährdende Potentiale entstehen können; wie sehr die Stabilität einer Demokratie nur mit sozialer Sicherheit gewährleistet werden kann. Eine der wesentlichen Lehren aus dieser Zeit ist daher die aktive Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Dabei wird eines ebenso deutlich: in Zeiten der Krise sind antisemitische und rassistische Ressentiments leichter zu schüren. Ich nutze daher den Gedenktag heute, um ausdrücklich vor solchen Entwicklungen zu warnen.

Die zentrale Antwort auf den Nationalsozialismus, auf das erfahrene Leid und Unrecht und auf die Bedrohung der persönlichen Freiheit geben die Menschenrechte. Verbrieft zunächst im Rahmen der 'Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte' 1948, gefolgt von der 'Europäischen Menschenrechtskonvention' 1950. Die Menschenrechte stellen die Unantastbarkeit der Würde der Menschen in den Mittelpunkt. Sie stellen seither das zentrale Fundament für unser Handeln dar. Denken wir beispielsweise an das Verbot von Folter, von Sklaverei und Zwangsarbeit. Denken wir an das Recht auf Bildung oder das Recht auf freie Wahlen. Denken wir an das Verbot von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Hautfarbe oder der Sprache.

Dieser immense zivilisatorische Fortschritt ist nicht das Ergebnis eines Zwangs, wie der manches Mal verwendete Begriff 'Umerziehung' nahelegt. Vielmehr spiegelt sich darin ein gemeinsames, nicht hoch genug einzuschätzendes Bekenntnis. Denn genau dort, wo Menschenrechte missachtet und verletzt werden, sind individuelle Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie in Frage gestellt.

Vaclav Havel hat Recht, wenn er sagt: 'Der Nachteil der Demokratie besteht darin, dass sie denjenigen, die es ehrlich mit ihr meinen, die Hände bindet. Aber denen, die es nicht ehrlich meinen, ermöglicht sie fast alles.' Genau das zeigt sich allzu oft auch im Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Und zwar dann, wenn antisemitische, rechtsextreme, revisionistische bis hin zu eindeutig neonazistischen Aussagen hinter der Meinungsfreiheit versteckt werden. Dann, wenn historische Fakten über den Holocaust bewusst falsch dargestellt werden. Die bloße Annäherung an dieses zutiefst antidemokratische Gedankengut ist entschieden abzulehnen. Es gilt klar Position zu beziehen. Gerade für Politikerinnen und Politiker.

Die Frage kann daher nicht nur sein, ob jemand Handlungen setzt, die strafrechtlich verfolgbar sind. Vielmehr müssen wir uns fragen, welche Meinungen ein Politiker oder eine Politikerin vertritt, welche Geschichtstradierungen damit für zulässig erklärt werden und welchem Umfeld dies dient. Wir brauchen daher einen breiten moralischen Grundkonsens, der weit über das juristisch Einklagbare hinausgeht (Beifall). Denn schon weit vor der Grenze des Strafrechts gibt es politisches und persönliches Verhalten, dem wir eindeutig entgegenzutreten haben. Auch die Unterstützung einer kritischen Öffentlichkeit ist dafür unabdingbar.

Ehrliches und engagiertes Gedenken – sehr geehrte Damen und Herren – ist mehr als bloße Rückschau. Es will immer auch Mahnung, Orientierung und Auftrag sein. Nur dann kann gelingen, was Jorge Semprún postuliert, wenn er das Gedächtnis eines demokratischen Denkens begründen möchte, eines Denkens der Toleranz, das dem Vergessen entgegenwirkt. Daher ist Gedenken mehr als Erinnerung."

HINWEIS: Fotos von der Gedenkveranstaltung finden Sie – etwas zeitverzögert – auf der Website des Parlaments im Fotoalbum : www.parlament.gv.at

(Schluss Wortlaut Prammer/Forts. Fischer)