Parlamentskorrespondenz Nr. 523 vom 24.06.2010

Enquete: Obsorgeregelungen und elterliche Verantwortung

Divergente Ansichten bei ExpertInnen

Wien (PK) Im ersten Block der Familienrechts-Enquete ging es gleich um eines der strittigsten Themen im Familienrecht: die Obsorgeregelungen für eheliche Kinder nach einer Scheidung und für uneheliche Kinder. Die verschiedenfach geforderte automatische gemeinsame Obsorge im Scheidungsfall ist, wie sich zeigte, auch unter den ExpertInnen umstritten.

Kathrein: Sachbezogene, ergebnisoffene Diskussion notwendig

Eingeleitet wurde die ExpertInnenreferate von einem Vertreter des Justizministeriums, Sektionschef Georg Kathrein. Er wies darauf hin, dass sich die Zivilrechtssektion des Ressorts schon seit vielen Jahren mit dem Obsorge-Thema beschäftige. Durch das Kindschaftsrechtsänderungsgesetz sei es zwar zu einigen Verbesserungen gekommen, meinte er, allerdings habe das geltende Modell der freiwilligen gemeinsamen Obsorge auch gewisse Schwächen. So leiste es keinen Beitrag dazu, erbitterte Streitigkeiten zwischen Eltern zu befrieden.

Die geltende Rechtslage in Österreich trägt nach Ansicht Kathreins außerdem dem gesellschaftlichen Wandel und der europäischen Entwicklung nicht in vollem Ausmaß Rechnung. Das aktuelle Leitbild sehe vor, Väter mehr in die Verantwortung zu nehmen, skizzierte er, auch wenn Realität und Leitbild häufig auseinander klafften.

Kathrein sieht daher die Notwendigkeit gesetzlicher Änderungen, plädierte aber dafür, mit großer "Vorsicht, Umsicht und Rücksicht" vorzugehen und sachbezogen und ergebnisoffen zu diskutieren. Seiner Darstellung nach will das Justizministerium eine Arbeitsgruppe einrichten, um Lösungen zu suchen, die nicht konfliktfördernd, sondern konfliktvermeidend seien. Die neuen gesetzlichen Bestimmungen sollten ihm zufolge viel deutlicher herausstreichen, dass es um die Verantwortung für das Kind gehe und nicht um Rechte und Ansprüche. Für Kathrein heißt das aber, wie er sagte, nicht zwingend eine gemeinsame Obsorge.

Ernst: Deutschland will von gemeinsamer Obsorge nicht mehr abrücken

Rüdiger Ernst, Richter am Kammergericht Berlin, erläuterte die gesetzlichen Obsorge-Bestimmungen in Deutschland, wie sie seit dem Jahr 1998 gelten. Demnach bleibt bei einer Trennung der Eltern die gemeinsame elterliche Sorge aufrecht, mit einer wesentlichen Ausnahme: Für die Angelegenheiten des täglichen Lebens hat der Elternteil das alleinige Entscheidungsrecht, bei dem das Kind lebt.

Jeder Elternteil könne allerdings die Alleinsorge oder Teile der Alleinsorge beantragen, schilderte Ernst. Das Familiengericht könne einem solchen Antrag aber nur stattgeben, wenn entweder der andere Elternteil zustimmt oder es dem Wohl des Kindes dient. Sehr häufig kommt es Ernst zufolge vor, dass es lediglich zu einer teilweisen Auflösung der gemeinsamen Sorge komme, also nur für bestimmte Bereiche. Von der grundsätzlichen Regelung der gemeinsamen Sorge will heute laut Ernst in Deutschland niemand mehr weg.

Bei nicht ehelichen Kinder ist in Deutschland, wie Ernst erklärte, die Mutter allein sorgeberechtigt. Nur in Ausnahmefällen könne der Vater an der Sorge teilhaben. So gebe es die Möglichkeit der gemeinsamen Sorgeerklärung, die aber von der Zustimmung beider Elternteile abhängig sei. Diese Bestimmung muss nun allerdings aufgrund einer Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs geändert werden. Ernst zufolge sind in Deutschland verschiedene Opt-In- und Opt-Out-Modelle in Diskussion, etwa die automatische gemeinsame Obsorge bei gleichem Wohnsitz der Eltern.

Täubl-Weinreich: Vorsichtiges Ja zu automatischer gemeinsamer Obsorge

Familienrichterin Doris Täubl-Weinreich hob hervor, dass die FamilienrichterInnen eine automatische gemeinsame Obsorge für Kinder im Scheidungsfall "vorsichtig bejahen". Allerdings müsse es eine verpflichtende Elternberatung vor der Scheidung in Bezug auf die Obsorgefrage geben, forderte sie. Damit könnten etwaige Konflikte bereits im Keim erstickt werden.

Täubl-Weinreich begründete die Haltung der FamilienrichterInnen damit, dass Obsorgeverfahren "scheußliche Verfahren" seien. Jeder Elternteil habe zu beweisen, dass er der bessere Elternteil sei, was bedeute, dass der andere Elternteil schlecht gemacht werden müsse. In der Praxis würden Dinge wie der Konsum von Haschisch in der Jugend oder Pornofilm-Schauen nach dem Schlafengehen des Kindes als Argumente vorgebracht. Solche Streitigkeiten seien zwar nie zur Gänze vermeidbar, sagte die Richterin, es gäbe aber Studien, denen zufolge eine gemeinsame Obsorge Konfliktsituationen entschärfe.

Viel wesentlicher als die Obsorgedebatte wertete Täubl-Weinreich allerdings die Frage des Besuchsrechts. Entsprechende Verfahren seien für alle Beteiligten zermürbend, betonte sie. Die Richterin regte daher die Einrichtung von Vermittlungsstellen an, die dem Gerichtsverfahren vorgelagert sein und eine Art Clearing-Funktion haben sollen. Sie sollten zwischen den Elternteilen vermitteln. Einer Entscheidungsfrist für Besuchsrechtsverfahren kann Täubl-Weinreich aufgrund des hohen Aktenanfalls für die RichterInnen nichts abgewinnen.

Generell gab Täubl-Weinreich zu bedenken, dass es in erster Linie um das Wohl des Kindes gehe. Es sei wissenschaftlich erwiesen, dass Kinder Mütter und Väter brauchten. Änderungsbedarf ortet sie daher auch in der Frage des hauptsächlichen Wohnorts für Kinder – es solle möglich sein, dass Kinder abwechselnd beim Vater bzw. der Mutter leben.

Wöran: Gemeinsame Obsorge setzt gewisses Einvernehmen voraus

Elisabeth Wöran, Plattform für Alleinerziehende, äußerte sich zu einer automatischen gemeinsamen Obsorge im Scheidungsfall skeptisch. Sie gab zu bedenken, dass eine gemeinsame Obsorge ein gewisses Einvernehmen zwischen den Eltern voraussetze. Ein solches sei bei strittigen Scheidungsverfahren und Sorgerechtsstreitigkeiten allerdings schwer zu erreichen. Gleichzeitig machte sie geltend, dass es viele Fälle gebe, wo ein Elternteil die alleinige Obsorge habe und die gemeinsame Kinderbetreuung trotzdem gut funktioniere.

Anstelle einer gemeinsamen Obsorge tritt Wöran für die Einrichtung von Eltern-Kompetenzzentren ein, die etwa bei den Jugendwohlfahrtsträgern angesiedelt sein könnten. Sie sollen bei Streitigkeiten zwischen Eltern vermittelnd eingreifen. Außerdem braucht es ihr zufolge für den Fall, dass sich die Eltern nicht einigen können, "entscheidungsfreudige Gerichte".

Generell machte Wöran geltend, dass es viele AlleinerzieherInnen gäbe, die mit ihren Pflichten und Sorgen allein gelassen würden und im Gegensatz zu den nunmehr sich benachteiligt fühlenden Vätern keine Kraft und Zeit hätten, sich an die Öffentlichkeit zu wenden, und daher auch weniger Gehör fänden. Sie schilderte einige Fälle aus der Praxis und fragte unter anderem, warum es möglich sei, dass sich ein Elternteil oft jahrelang seinen Unterhaltspflichten entziehen könne und ein gewalttätiger Vater ein Besuchsrecht bekomme, weil er nur die Mutter, aber nicht das Kind geschlagen habe.

Birnbaum: Automatische gemeinsame Obsorge bei vorheriger Beratung

Rechtsanwältin Brigitte Birnbaum, Vizepräsidentin der Rechtsanwaltskammer Wien, meinte, sie sei dem Vorschlag einer automatischen gemeinsamen Obsorge im Scheidungsfall zugänglich, allerdings sei es wichtig, dass es davor eine Elternberatung gebe. Nur bei wichtigen Gründen soll ihr zufolge von einer gemeinsamen Obsorge abgegangen werden können.

Birnbaum wandte sich dagegen, mit Einzelfällen zu argumentieren und meinte, es gebe keine Legitimation für einen Geschlechterkampf. Für das Kindeswohl sei es erforderlich, beide Elternteile in die Pflicht zu nehmen und keinen von beiden zu demotivieren. Die gemeinsame Obsorge hat sich Birnbaum zufolge bewährt, allerdings sei es derzeit ein Problem, dass ein Elternteil das Einvernehmen grundlos auflösen könne und das Gericht die Obsorge dann einem Elternteil übertragen müsse, selbst wenn das nicht dem Kindeswohl entspreche.

Diskriminierend ist für Birnbaum auch die notwendige Festlegung eines hauptsächlichen Aufenthaltsortes des Kindes. In Bezug auf das Besuchsrecht schloss sie sich dem Vorschlag von Frauenministerin Heinisch-Hosek einer Mitregelung im Scheidungsverfahren an. Sie forderte allerdings auch Konsequenzen, sollte ein Elternteil das Besuchsrecht konsequent hintertreiben. Bei unehelichen Kindern erachtet Birnbaum eine automatische gemeinsame Obsorge nicht als zielführend und regte eine gemeinsame Erklärung beider Elternteile an.

Ferrari: Geltende Obsorgeregelungen verfassungsrechtlich bedenklich

Universitätsprofessorin Susanne Ferrari vom Institut für Zivilrecht an der Karl-Franzens-Universität Graz wertete die geltenden Obsorgeregelungen als verfassungsrechtlich bedenklich und schlug vor, wie in anderen europäischen Ländern bereits üblich, zwischen der Innehabung und der Ausübung der Obsorge zu unterscheiden. Geht es nach ihr, soll die gemeinsame Obsorge im Scheidungsfall beibehalten werden, und zwar unabhängig vom Aufenthaltsort des Kindes. Gleichzeitig sprach sie sich dafür aus, den Gerichten in Streitfällen möglichst großen Handlungsspielraum einzuräumen. Diese sollen etwa einzelne Streitfragen entscheiden oder Teile der Ausübung der Obsorge einen Elternteil übertragen können, ohne an der grundsätzlichen Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge zu rütteln. Ebenso sollte es ihnen, im Unterschied zu jetzt, möglich sein, grundlose Anträge auf alleinige Obsorge abzuweisen.

Was uneheliche Kinder betrifft, regte Ferrari an, dem Vater einen Zugang zur Obsorge zu eröffnen und zwar auch ohne Zustimmung der Mutter. Wie dieser Zugang ausgestaltet ist, dafür gibt es ihr zufolge verschiedene Möglichkeiten, sie selbst tendiert auch bei unehelichen Kindern zu einer automatischen gemeinsamen Obsorge. Weitere Möglichkeiten wären eine automatische gemeinsame Obsorge nur bei gemeinsamen Haushalt der Eltern oder eine gemeinsame Obsorge auf Antrag der Mutter bzw. des Vaters.

Verschraegen: Gemeinsame Obsorge auch bei unehelichen Kindern

Universitätsprofessorin Bea Verschraegen von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien ging näher auf die von Rüdiger Ernst angesprochene Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs ein und wies darauf hin, dass diese von den ExpertInnen unterschiedlich interpretiert werde. Ihrer Meinung nach kann aus der Entscheidung aber keine Verpflichtung zur automatischen gemeinsamen Obsorge für uneheliche Kinder herausgelesen werden. Vielmehr sei sowohl eine automatische gemeinsame Obsorge mit Korrekturmöglichkeiten als auch eine Alleinobsorge der Mutter mit Korrekturmöglichkeiten erlaubt. Es dürfe jedenfalls nicht in der alleinigen Entscheidungsgewalt der Mutter liegen, ob der Vater in die Obsorge einbezogen wird.

Was Sorgerechtsstreitigkeiten bei ehelichen Kindern nach Scheidungen betrifft, plädierte Verschraegen für eine zwingende Besuchsregelung in einem sehr frühen Stadium und eine Abkoppelung der Verjährbarkeit von Unterhaltsansprüchen von der Frage der gemeinsamen Obsorge.

Lehner: Beide Eltern bereits während der Beziehung in Pflicht nehmen

Männer- und Geschlechterforscher Erich Lehner (Universität Klagenfurt) plädierte für eine Verbesserung der bestehenden Praxis der Obsorge, wandte sich aber dagegen, die gemeinsame Obsorge automatisch auszuweiten. Dies entspreche nicht der gesellschaftlichen Realität, argumentierte er.

Nicht die Scheidung und die Spruchpraxis der Gerichte erschwere den Vätern die Beziehung zu ihren Kindern, konstatierte Lehner, sondern die Grundstruktur der österreichischen Familie. Diese sei nach wie vor davon geprägt, dass der Vater der Erwerbsarbeit nachgehe und die Frau die Kinderbetreuung übernehme. Zwar gebe es mittlerweile gewisse Modifikationen, dennoch sei das Modell des Vaters als Familienernährer und der Mutter als Teilzeit-Zuarbeiterin "in die Köpfe der Leute eingegraben". Zu dieser Aufgabenteilung trügen auch die Rahmenbedingungen, etwa in der Arbeitswelt oder im Schulbereich, bei.

Lehner betonte, laut Wissenschaft sei es für die Kinder von Vorteil, wenn beide Elternteile präsent und verfügbar seien. Damit der Vater von den Kindern als gleichrangige Bezugsperson wie die Mutter empfunden werde, müsste er Studien zufolge aber 42 % der Hausarbeit übernehmen, ein Umstand, der sich im Übrigen auch positiv auf die Beziehung auswirken würde. Gleichzeitig gebe es laut Wissenschaft aber auch Fälle, in denen die Nicht-Präsenz des Vaters für Kinder gut sei, nämlich wenn Gewalt im Spiel ist. Lehner schloss mit der Bemerkung, er sei zu "hundert Prozent" dafür, beide Eltern in die Pflicht zu nehmen, aber nicht erst bei der Trennung, sondern schon am Beginn der Beziehung.

HINWEIS: Fotos von der Enquete finden Sie – etwas zeitverzögert – auf der Website des Parlaments im Fotoalbum : www.parlament.gv.at

(Forts.)