Parlamentskorrespondenz Nr. 50 vom 19.01.2011

Eizenstat: Die Kenntnis der Wahrheit ist befreiend

Vortrag zum 10. Jahrestag des "Washingtoner Abkommens" im Parlament

Wien (PK) – Vor zehn Jahren, am 17. Jänner 2001, unterzeichneten Österreich und die USA das so genannte "Washingtoner Abkommen", in dem sich Österreich zu Entschädigungszahlungen an Opfer des Nationalsozialismus verpflichtete und das auch verschiedene Restitutionsfragen regelte. Aus diesem Anlass lud Nationalratspräsidentin Barbara Prammer heute gemeinsam mit dem Präsidenten der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und die Vereinten Nationen, Ex-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, zu einem Vortrag des damaligen amerikanischen Chefverhandlers und EU-Botschafters, Stuart E. Eizenstat, ins Parlament. Österreich habe mit der Unterzeichnung des "Washingtoner Abkommens" Verantwortung für die Opfer des Holocaust übernommen, betonte Prammer, die geleisteten Entschädigungszahlungen würden das Land aber nicht davon entbinden, weiter mit aller Anstrengung das Gedenken an die NS-Opfer hoch zu halten.

Österreich sicherte im "Washingtoner Abkommen" zu, 210 Mio. US-Dollar für Opfer des Nationalsozialismus bereitzustellen und richtete zu diesem Zweck den Allgemeinen Entschädigungsfonds ein. Dieser Fonds hat seit Aufnahme seiner Tätigkeit fast 21.000 Anträge mit rund 120.000 einzelnen Forderungen im Gesamtausmaß von 1,5 Mrd. $ bearbeitet. Mittlerweile ist die Arbeit des Fonds fast abgeschlossen. 96 % der Fondsmittel sind ausgezahlt, Betroffene erhielten in der Regel zwischen 10 und 20 % der geltend gemachten Ansprüche. Mit einem weiteren, erst vor kurzem eingerichteten Fonds kommt Österreich der Verpflichtung zur Instandsetzung jüdischer Friedhöfe nach.

Prammer: Historisches Bewusstsein schaffen

Eine der größten Herausforderungen des Allgemeinen Entschädigungsfonds sei es gewesen, nicht nur faire Verfahren zu gewährleisten, sondern auch psychologische Aspekte nicht zu vernachlässigen, betonte Prammer heute in ihren Begrüßungsworten. Die Schicksale jener, die sich an den Fonds gewandt hatten, seien sehr mannigfaltig und unterschiedlich gewesen, skizzierte sie. Viele Betroffene seien auch nicht in der Lage gewesen, geltend gemachte Verluste zu dokumentieren, hier sei der Entschädigungsfonds bei der Beschaffung erforderlicher Dokumente hilfreich zur Seite gestanden. Laut Prammer haben sich 30 % der Anträge auf Ausbildungs- und Arbeitsplatzverluste bezogen, 20 % auf liquidierte Unternehmen und

50 % auf andere Arten von Vermögensverlusten.

Abseits der Tätigkeit des Entschädigungsfonds verwies Prammer auf die verstärkten Bemühungen Österreichs in den vergangenen Jahren, Erinnerungsarbeit zu leisten und historisches Bewusstsein zu schaffen, um jedwede Art von nationalsozialistischen Tendenzen zu unterbinden. In diesem Zusammenhang machte sie etwa auf vom Nationalfonds und vom Zukunftsfonds geförderte Schul- und andere Projekte sowie die Demokratiewerkstatt des Parlaments aufmerksam. Österreich müsse seine Anstrengungen auf diesem Gebiet mit aller Kraft weiterführen, betonte Prammer, die Opfer des Holocaust dürften nicht allein gelassen werden.

Schüssel: Erfolgreiche Arbeit von National- und Entschädigungsfonds

Wolfgang Schüssel verwies eingangs seiner Rede darauf, dass der Sitzungssaal des Nationalrats jener Platz sei, an dem eine Reihe von Gesetzen zur Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus einstimmig beschlossen wurde. Sowohl der Allgemeine Entschädigungsfonds als auch der Nationalfonds hätten erfolgreiche Arbeit geleistet, betonte er. Insgesamt seien 350 Mio. € an Betroffene ausgezahlt worden, nicht nur an Opfer des Holocaust, sondern etwa auch an ehemalige Zwangsarbeiter. Dazu habe Österreich an NS-Opfer bislang 820 Mio. € an Pensionszahlungen und mehr als 120 Mio. € an Pflegegeldzahlungen geleistet.

Großes Lob äußerte Schüssel für Stuart E. Eizenstat. Dieser habe nicht nur mit ihm und seinem Mitarbeiterstab das "Washingtoner Abkommen" und das Abkommen zur Entschädigung von Zwangsarbeitern verhandelt, Eizenstat sei auch der Vater vieler anderer internationaler Verträge und einer der brillantesten und besten Verhandler, den er je kennengelernt habe, unterstrich Schüssel.

Eizenstat: Österreich leistete Pionierarbeit

Stuart E. Eizenstat nannte das Washingtoner Abkommen eine "Wasserscheide in der neueren österreichischen Geschichte". Es habe dem österreichischen Volk ein besseres Verständnis seiner eigenen, komplizierten Geschichte während des Zweiten Weltkriegs gegeben und  Österreich zu einem weltweiten Führer in der Suche nach Gerechtigkeit für die Opfer der Shoah und andere Nazi-Opfer gemacht. Kein Land sei in dieser Frage schneller und weiter gegangen, seine moralische Verantwortung zu übernehmen und Schlüsse daraus zu ziehen, erklärte der Redner.

Eizenstat gab einen Überblick über die oftmals tragische Geschichte der Juden in der Diaspora, die erst in den USA rechtliche Gleichheit eingeräumt bekamen, wenngleich es selbst dort immer wieder zu Diskriminierungen bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts gekommen sei. In Europa erwies sich die Konferenz von Evian als fatal für die Juden, denn auf diesem Treffen signalisierten die Alliierten dem Dritten Reich, dass sie nichts zur Rettung der Juden unternehmen würden. Evian führte somit direkt zum Wannsee, wo die so genannte "Endlösung der Judenfrage" von den Nationalsozialisten beschlossen wurde. Lange Zeit hätten sich die Verantwortlichen auf Seiten der Alliierten geweigert, die Wahrheit zur Kenntnis zu nehmen, während in Deutschland nicht weniger als zwölf Millionen Zwangsarbeiter zum Einsatz kamen und millionenfach Juden in Vernichtungslagern ermordet wurden.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese tragischen Zusammenhänge nicht wirklich aufgearbeitet, weil man dem "Kalten Krieg" mehr Bedeutung beimaß. Erst der Prozess gegen Adolf Eichmann in Israel rückte das Thema wieder ins kollektive Gedächtnis und erwies sich so als ein Wendepunkt in der historischen Aufarbeitung des Holocaust. Nach 1989 gab es weitere Impulse durch die Öffnung zahlreicher zuvor unzugänglicher Archive.

Eizenstat kam sodann auf die besondere Rolle Österreichs zu sprechen. Hier habe es unmittelbar nach der Okkupation durch Nazi-Deutschland eine "wilde Arisierung" gegeben, in der 7.000 jüdische Geschäfte liquidiert und zahllose Sportplätze, Schulen und Spitäler ihren Besitzern geraubt wurden. Bereits ab Mai 1938 galten die Nürnberger Rassegesetze, und ein halbes Jahr später wurden im Rahmen der "Reichskristallnacht" 50 Synagogen niedergebrannt und über 4.000 Geschäfte geplündert. 126.000 Juden war die Flucht aus Österreich gelungen, die übrigen 60.000 wurden von den Nazis in den diversen Lagern ermordet. Bemerkenswert hoch sei dabei der Anteil von Österreichern in der NS-Spitze gewesen, erinnerte Eizenstat bei dieser Gelegenheit.

Nach dem Krieg habe sich Österreich lange Zeit auf seine Rolle als erstes Opfer der NS-Aggression zurückgezogen, und erst die "Waldheim-Affäre" habe hier zu einem Umdenkprozess geführt. Als besonders bedeutsam hob Eizenstat die Rede Vranitzkys 1991 hervor, in der er sich zu allen Daten und Taten während der Jahre 1938 und 1945 bekannte. Auch den Besuch Klestils in Israel würdigte der Vortragende. Die Schaffung des Nationalfonds und die Einsetzung einer Historikerkommission hätten die Bemühungen Österreichs gezeigt, mit seiner Geschichte ins Reine zu kommen.

Österreich habe damit Pionierarbeit geleistet und sei zum Vorbild für viele andere Staaten geworden, unterstrich Eizenstat. Insbesondere ging er dabei auf die Bemühungen des seinerzeitigen Kanzlers Schüssel ein, während dessen Amtszeit durch das Abkommen von Washington nachhaltige Resultate gezeitigt werden konnten. Dabei sei die Geldleistung weniger wichtig gewesen als das Zeichen der Anerkennung. Österreich habe damit gezeigt, dass es seine Lektion aus der Geschichte gelernt habe, die Opfer ehre und sich ihrer erinnere. Damit werde es möglich sein, künftig eine solche Entwicklung, wie sie zwischen 1933 und 1945 stattfand, verhindern zu können, und daran habe Österreich seinen Anteil, anerkannte Eizenstat. Die Kenntnis der Wahrheit mag schmerzvoll sein, sie sei aber auch befreiend, ermögliche sie doch, aus ihr für die Zukunft zu lernen. Das habe Österreich getan, und dazu gratuliere er ihm, schloss der Redner.

(Schluss)

HINWEIS: Fotos vom Vortrag finden Sie – etwas zeitverzögert – auf der Website des Parlaments (www.parlament.gv.at ) im Fotoalbum .