Parlamentskorrespondenz Nr. 1009 vom 02.11.2011

Eine unablässige Streiterin im Kampf gegen das Vergessen

NR-Präsidentin überreicht Österreichisches Ehrenkreuz an Ruth Klüger

Wien (PK) – Die 1931 in Wien geborene Germanistin und Autorin Ruth Klüger wurde heute Abend für ihre herausragenden Leistungen auf kulturellem Gebiet mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse ausgezeichnet. Nationalratspräsidentin Barbara Prammer, die zur Überreichung desselben in den Empfangssalon des Parlaments geladen hatte, würdigte das Lebenswerk der Holocaust-Überlebenden und gratulierte ihr nachträglich zum 80. Geburtstag. Die österreichische Schriftstellerin Barbara Frischmuth hob im Rahmen einer bewegenden Laudatio die Aufforderung zum Mitfühlen und Mitdenken als eine der zentralen Botschaften in den Werken der nunmehrigen Ehrenkreuzträgerin hervor.

Klüger: "Ein Stückerl verlorene Kindheit zurückgegeben"

Ruth Klüger selbst meinte in ihren Dankesworten, mit der heutigen Ehrung werde ihr "ein Stückerl verlorene Kindheit zurückgegeben". Der Kreis könne damit zwar nicht geschlossen werden, sagte Klüger, sie wolle dafür lieber das Bild des zerbrochenen Rings zeichnen, dessen gespaltene Enden nun zusammengebogen werden.

Der Gegensatz: Jüdisch-Deutsch, den man ihrer Generation aufgezwungen hatte, sei nicht immer vorhanden gewesen, bemerkte Klüger und erinnerte an zahlreiche Dichtergrößen, unter anderem an Heinrich Heine, den sie sehr verehrt und den sie als "Pionier deutsch-jüdischen Geistes" bezeichnete. Sie habe sich auch erst mit 30 Jahren entschieden, deutsche Literatur zu studieren, und die deutsche Dichtung übe auf sie eine Faszination aus, die nie nachgelassen habe. Klüger sprach in diesem Zusammenhang von ihrer "zwiespältig, kritisch liebenden Haltung" zur deutschen Literatur.

Prammer: Wir dürfen nicht müde werden, Verantwortung zu übernehmen

Nationalratspräsidentin Barbara Prammer dankte Ruth Klüger "von ganzem Herzen", dass sie den Weg nach Österreich zurückgefunden hat und dass sie uns an ihren Erfahrungen teilhaben lässt. "An diesen müssen wir wachsen und uns messen lassen", sagte Prammer. Die heutige Ehrung sei nicht allein Dank und Anerkennung für Klügers wissenschaftliche und literarische Leistungen, sie sei auch Dank und Anerkennung für deren unermüdliches Engagement gegen das Vergessen. Wir dürfen nicht müde werden, Verantwortung zu übernehmen und dieses Bewusstsein an die nächste Generation weiter zu geben, so der Appell Prammers.  

Barbara Frischmuth: Gedichte Klügers fordern Mitfühlen und Mitdenken ein

Für Barbara Frischmuth zeichnet sich das Werk Ruth Klügers vor allem durch deren ständige Aufforderung zum Mitfühlen und Mitdenken aus, wohin Ausgrenzung und Verächtlichmachung führen können. Die Gedichte der jungen Ruth Klüger seien nicht nur Zeugnisse des Geschehens, sie seien viel unmittelbarer, weil sie das Mitfühlen und das Mitdenken einfordern. Wer mitdenken will, brauche Deutung des Geschehens, bemerkte Frischmuth.

Klüger sei als Kind "hellwach" gewesen, noch nie habe sie, Frischmuth, ein beeindruckenderes Plädoyer für die Existenz von Gedichten erfahren. Sie stellten Berichte aus der Alltäglichkeit des Grauens dar, durch die man die Schatten der Wahrheit erspähen könne. Aus den von Klüger Erzähltem könne man sich emotionell nicht ausklinken, sagte Frischmuth, ihre Erinnerungsarbeit zeichne sich dadurch aus, dass sie die Shoah nie als etwas Schicksalhaftes und Unausweichliches gesehen hat, sondern als etwas von Menschen anderen Menschen Zugefügtes. Wir würden dadurch ermutigt, sich nicht in Lethargie dem Unausweichlichen hinzugeben, sondern die Augen aufzumachen, um zu erkennen, wo Rassismus beginnt, sagte Frischmuth. Die Werke Klügers seien in diesem Sinne ein "Enttarnen".

Bewältigung braucht Erinnerung

Verdrängung war noch nie die Sache von Ruth Klüger, die als Kind einer jüdischen Familie die Folgen der Machtergreifung der Nationalsozialisten unweigerlich am eigenen Leib verspüren sollte. Das Unbewältigte komme schließlich immer wieder zurück und "geistere herum", zeigt sich die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin überzeugt. Verfehlt sei aber auch der Versuch, das Geschehene umzudeuten, um es erträglicher zu machen: Damit verfälsche und entschärfe man es schließlich, hatte Klüger in ihrer Rede zum Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Mai dieses Jahres (siehe PK 447/2011) festgehalten.

Auf diese Rede ging auch Nationalratspräsidentin Barbara Prammer in ihrer Begrüßung ein. Sie habe noch nie eine derartig bewegende und beachtete Rede anlässlich des Gedenktags gehört, betonte sie und zeigte sich zugleich auch "zutiefst beeindruckt" vom jüngst in Wien angelaufenen Film "Das Weiterleben der Ruth Klüger"; beeindruckt nicht nur davon, wie der Film gemacht ist, sondern auch davon, wie sich Ruth Klüger selbst zeigt, wie sie ihr ambivalentes Verhältnis zu Österreich und Wien darstellt. 

Das Ehrenkreuz, das Ruth Klüger heute Abend in Empfang nahm, ist nicht die erste Auszeichnung, die sie in diesem Jahr für ihr Lebenswerk als Germanistin und Autorin erhält: Erst vor Kurzem waren ihr der Theodor-Kramer-Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil sowie der Donauland-Sachbuchpreis "Danubius" verliehen worden. Literarisch auf sich aufmerksam gemacht hat Klüger vor allem mit ihren beiden Büchern "weiter leben - eine Jugend" und "unterwegs verloren", in denen sie sich mit ihrem persönlichen Werdegang auseinandersetzt: Erinnerungen an die Zeit, die sie als Kind in verschiedenen Konzentrationslagern verbrachte, ehe ihr 1945 mit ihrer Mutter die Flucht gelang, kommen dabei ebenso zur Sprache wie ihre Emigration in die USA, die eine zweite Heimat für die Schriftstellerin geworden sind. Heute hat Klüger eine Professur für Germanistik an der University of California in Irvine (Kalifornien) inne und lehrt als Gastprofessorin an der Georg-August-Universität in Göttingen.

Für die musikalische Umrahmung der heutigen Ehrung zeichnete das Streichquartett "String Fizz" verantwortlich, das Kompositionen von Haydn, Mozart und Gershwin zum Besten gab.

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie – etwas zeitverzögert – auf der Website des Parlaments (www.parlament.gv.at) im Fotoalbum.