Parlamentskorrespondenz Nr. 1169 vom 30.10.2015

20 Jahre Nationalfonds: Du sollst niemals ein Zuschauer sein

Nationalratspräsidentin Doris Bures lud zur Festveranstaltung "20 Jahre Nationalfonds der Republik Österreich" ins Parlament

Wien (PK) - Vor 20 Jahren wurde der Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus eingerichtet – ein spätes Bekenntnis der Republik zur Mitverantwortung von Österreicherinnen und Österreichern an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Anlässlich des Jahrestags lud Nationalratspräsidentin Doris Bures gestern Abend, Donnerstag, zur Festveranstaltung "20 Jahre Nationalfonds der Republik Österreich" ins Parlament.

Nach Begrüßungsworten der Nationalratspräsidentin über die große Bedeutung des Nationalfonds hielt Bundespräsident Heinz Fischer eine Festansprache, in der er auf die Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland beim Umgang mit der NS-Vergangenheit einging. Vor der Rede des Bundespräsidenten gab es noch einleitende Worte von der Generalsekretärin des Nationalfonds, Hannah Lessing. Sowie eine Festrede des Historikers Yehuda Bauer, der über die Bedeutung der Demokratie und die Widersprüchlichkeit des Menschen sprach.

Nationalratspräsidentin Bures berichtete in ihrer Begrüßungsrede unter anderem über einen Besuch in New York, wo sie Überlebende des NS-Terrors traf: "Im österreichischen Generalkonsulat traf ich Menschen im hohen Alter, viele von ihnen mussten als Kinder oder Jugendliche vor NS-Gewalt und Mord aus Österreich fliehen. Sie haben in den USA eine neue Heimat gefunden. Im Gespräch mit diesen Menschen erfuhr ich einmal mehr, dass die Bedeutung des Nationalfonds weit über seine materiellen Leistungen hinausgeht. Erst die Arbeit des Nationalfonds ermöglichte vielen eine Wiederbegegnung mit Österreich – dem Ort ihrer verlorenen Heimat."

Die Nationalratspräsidentin schloss ihre Rede mit den Worten: "Das Vermächtnis der Überlebenden mahnt uns zu beweisen, dass wir aus der Geschichte gelernt haben. Das sind wir ihnen, und unseren Kindern schuldig!"

Täter haben sich unter die Opfer gemischt

Bundespräsident Heinz Fischer sagte in seiner Festansprache: "Es ist sehr zu begrüßen, dass es den Nationalfonds gibt. Dass er erst fünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet wurde, ist ein Wermutstropfen." Danach beschäftigte sich Fischer mit der unterschiedlichen NS-Geschichte Deutschlands und Österreichs: "In Deutschland stand der Machtantritt Hitlers mit Wahlen in Verbindung, in Österreich nicht. In Deutschland gab es beim Machtantritt Hitlers keine völkerrechtlichen Probleme, in Österreich schon." Nicht zuletzt diese Unterschiede hätten zur Moskauer Deklaration 1943 beigetragen, die besagte, Österreich sei das erste freie Land gewesen, das der "Angriffspolitik Hitlers" zum Opfer gefallen sei. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten sich auch Österreicherinnen und Österreicher, die in der NS-Zeit zu Tätern geworden seien, diese "Formel" zunutze gemacht und hätten sich zu Opfern erklärt. "Täter haben sich unter die Opfer gemischt."

Der Bundespräsident beendete seine Rede mit den Worten: "Die Geschichte lehrt viel über Verantwortung und über die Schwäche der Demokratie. Wir alle werden immer wieder in neuer Form auf die Probe gestellt. Zurzeit passiert das beim Thema Flüchtlinge." Das Leitmotiv jeder Bürgerin und jedes Bürgers solle in dieser Frage lauten: "Verhältst du dich heute so, dass du das auch in 10 oder 20 Jahren deinen Kindern erklären kannst?"

Wie bekämpft man Totalitarismus?

Der Historiker Yehuda Bauer sagte in seiner Festrede: "Der Führerstaat ist nicht nur der Nazi-Staat, sondern eine menschliche Neigung." Der Mensch neige noch immer dazu, kein Demokrat zu sein, sondern dem Alphamännchen oder dem Alphaweibchen zu folgen. Das zeige sich auch in der heutigen Weltpolitik. Demokratie sei nichts Natürliches. Und es sei sehr schwer, das zu verändern. "Wie bekämpft man Totalitarismus? Wie die NS-Ideologie?", fragte Bauer. Und antwortete: "Die Erben der Täter sind nicht schuldig, aber verantwortlich. Und auch die Erben der Opfer und die Zuseher sind verantwortlich. Die Demokratische Gesellschaft muss sich verantwortlich fühlen." Die moralische Grundlage dieser Verantwortung seien drei Gebote, sagte Bauer: "Erstens, du darfst kein Täter sein. Zweitens, du sollst kein Opfer sein. Drittens, du sollst niemals ein Zuschauer sein."

Die Generalsekretärin des Nationalfonds, Hannah Lessing, sagte in ihrer Rede: " Wir können nicht das Rad der Zeit zurückdrehen und wir können nichts wieder gut machen. Trotzdem war es wichtig, das Rad der Versöhnung in Gang zu bringen. Die Gründung des Nationalfonds hat in Österreich einen Wandel im Umgang mit der NS-Vergangenheit eingeläutet. 1995 war noch nicht absehbar, wie groß diese Aufgabe war. Wir hatten keine Vorstellung, wie viele Menschen wir erreichen können. Die Opfer des NS-Terrors lebten in 70 verschiedenen Ländern. Die Antwort der Adressierten war oft von Kritik Bitterkeit und Zorn getragen, aber auch von Herzlichkeit. Und diese Herzlichkeit zeigt, wie wichtig diese Geste der Republik war."

Für die musikalische Umrahmung der Veranstaltung sorgte Ernst Molden, der drei Stücke vortrug. Als Moderatorin führte Sonja Kato-Mailath-Pokorny durch den Abend. (Schluss) wz

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