Parlamentskorrespondenz Nr. 38 vom 26.01.2016

Verbrechen der NS-Medizin sind auch Warnung für heute

Podiumsdiskussion im Parlament zur Ausstellung Erfasst, verfolgt, vernichtet und anlässlich des Holocaust-Gedenktages

Wien (PK) – Der 27. Jänner wird als Internationaler Holocaust-Gedenktag begangen. Im Vorfeld des Gedenktages zeigt das österreichische Parlament im Palais Epstein die Wanderausstellung "Erfasst, verfolgt, vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus". Heute Abend fand dazu unter Moderation von Heidemarie Uhl (Österreichische Akademie der Wissenschaften) eine Podiumsdiskussion statt. Vertreter der deutschen und österreichischen Fachverbände für Psychiatrie und Psychotherapie diskutierten mit HistorikerInnen und dem Publikum über die Frage der Verantwortung des Faches und die Lehren, die für die Zukunft aus diesem dunklen Kapitel der Medizingeschichte zu ziehen sind. Eine zentrale Aussage war dabei, dass die medizinischen Fachrichtungen sich bemühen müssen, auch die kommenden Generationen in ihrem Berufsstand für Fragen der gesellschaftlichen Verantwortung zu sensibilisieren. Das Geschehene müsse als Warnung dienen, wozu der Missbrauch von Macht durch gesellschaftliche Eliten führen kann.

Die größte Gefahr für ihr Fach gehe von einem beschränkten Denken aus, betonten die Fachvertreter Frank Schneider (Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde - DGPPN) und Georg Psota (Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie ÖGPP). Schneider und Psota leiteten die Diskussion mit Kurzreferaten ein und sprachen über die Verantwortung der Psychiatrie, die sich der Aufarbeitung der Verbrechen der NS-Medizin zu stellen habe. Beide betonten, dass diese sich bedauerlicherweise lange nicht ihrer Verantwortung gestellt hatten, wie auch, dass die gesellschaftliche Verantwortung der Medizin in Fragen der Bioethik aktueller denn je sei.

Die Psychiatrie-Fachverbände bitten die Opfer um Verzeihung

Frank Schneider stellte das dunkelste Kapitel der Medizingeschichte im 20. Jahrhundert in den historischen Kontext und erinnerte an den Eugenik-Diskurs, der für die Taten der Nationalsozialisten den Boden bereitete. Nach 1945 habe es ein unverständlich langes Schweigen über die Taten gegeben. Erst ab den 1970er Jahren wurden langsam Schritte der Aufarbeitung gesetzt. Schneider betonte, dass es für seinen Fachverband, der auf 170 Jahre Geschichte zurückblicke, wichtig sei, sich auch seiner Rolle als "Täterorganisation" zu stellen und die daraus erwachsende Verantwortung wahrzunehmen. Die Ausstellung sei ein Ergebnis davon. Ganz bewusst stelle sie diejenigen in den Mittelpunkt, die lange am Rand der Gesellschaft standen. Schneider sagte, er sei froh darüber, dass die Ausstellung weite Kreise der Bevölkerung, aber auch die Politik erreiche.

Psota erinnerte daran, dass viele Mitglieder seiner Berufsgruppe in keiner Weise gezwungen werden mussten, sich an den NS-Plänen zur Eugenik und Rassenpolitik zu beteiligen. Viele österreichische Psychiater machten sich im Gegenteil nach 1938 bereitwillig daran, KollegInnen jüdischer Abstammung oder mit unerwünschten politischen Ansichten zu verfolgen. Die Zahl der aus Österreich stammenden Rassenfanatiker und Beteiligten an den Morden an Psychiatrie-PatientInnen war laut Psota überdurchschnittlich hoch. Nach den 1950er Jahre gab es jahrzehntelang keine Auseinandersetzung mehr mit dem Thema. Psota bat im Namen seiner Fachrichtung die Opfer und ihre Angehörigen um Verzeihung für das, was ihnen angetan wurde, wie auch für das lange Verdrängen und Verschweigen. Nicht Schweigen und Verdrängen, sondern Erinnern und Aufarbeitung seien wichtig, um die neue Generation von MedizinerInnen und PsychiaterInnen für ethische Fragen ihres Faches zu sensibilisieren.

Viele Bereiche des NS-Medizinverbrechen bleiben noch aufzuarbeiten

Die Sicht der Geschichtswissenschaft auf die Verbrechen der NS-Medizin und die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen vertraten der Historiker Herwig Czech (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes) und die Historikerin Brigitte Kepplinger (Obfrau des Vereins Schloss Hartheim).

Kepplinger berichtete über die Umstände der Gründung des Vereines zum Gedenken an die Opfer von Schloss Hartheim im Jahr 1995. Dieses Schloss war vor 1938 eine kirchliche Betreuungseinrichtung für Menschen mit Behinderungen und wurde von den Nationalsozialisten zu einer Anstalt für den organisierten Massenmord umfunktioniert. Die Widerstände gegen die Einrichtung der Gedenkstätte kamen vor allem aus der lokalen Bevölkerung, erinnerte sich Kepplinger, wobei nach ihrer Wahrnehmung eine diffuse Gemengelage aus Ängsten und Abwehrhaltung bestand. Wesentlich für die Umsetzung des Projekts war die Unterstützung des Landes Oberösterreich.

Herwig Czech erinnerte an den langen Weg, der in Österreich zurückzulegen war, bis das Bewusstsein über die Verbrechen an kranken und behinderten Menschen im gesellschaftlichen Mainstream angekommen war. Was die Kontinuitäten der NS-Medizin in der Nachkriegszeit betrifft, so tritt Czech für eine differenzierte Betrachtungsweise ein. In den Jahren unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden mehrere große Prozesse geführt, in denen die Morde an PatientInnen und Menschen mit Behinderungen klar als Morde benannt wurden und es auch zu strengen Urteilen kam. Ab den 1950er Jahren führte eine geänderte politische Situation dazu, dass alte NS-Seilschaften sich wieder etablieren konnten und das Thema aus der Öffentlichkeit verschwand. Der Druck der Alliierten wurde geringer und das politische Werben um die Wählerschicht der ehemaligen NSDAP-Mitglieder begann. Verwaltung wie Justiz spielten ebenfalls eine beschämende Rolle in der Verhinderung der Aufklärung. Czech plädierte dafür, neben den bekannten Orten wie Spiegelgrund und Schloss Hartheim nicht die vielen anderen Orte des Massenmordes zu vergessen. Hier gebe es noch vieles aufzuarbeiten.

Ausstellung noch bis Samstag im Palais Epstein zu sehen

Die Wanderausstellung "Erfasst, verfolgt, vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus " entstand auf Anregung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde und wird auf Initiative der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie in Wien gezeigt. Die Ausstellung im Innenhof des Palais Epstein ist noch bis 30. Jänner bei freiem Eintritt zu sehen. Die Öffnungszeiten sind Montag bis Freitag zwischen 09.00 und 16.00 Uhr sowie samstags zwischen 10.00 und 15.00 Uhr. Ergänzende Beiträge zur Ausstellung stammen aus der vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes gestalteten Ausstellung "Der Krieg gegen die 'Minderwertigen'. Zur Geschichte der NS-Medizin in Wien" der Gedenkstätte Steinhof. (Schluss) sox

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie im Fotoalbum auf www.parlament.gv.at.