Parlamentskorrespondenz Nr. 1256 vom 17.11.2016

Rede von Nationalratspräsidentin Doris Bures beim Staatsakt Geste der Verantwortung

Bures: Staatsakt kann und soll keinen Schlussstrich unter offene Diskussionen und unter die Aufarbeitung setzen

Wien (PK) - Auf Initiative von Nationalratspräsidentin Doris Bures findet heute, am 17. November 2016, ein Staatsakt im Parlament statt. Das offizielle Österreich und die Kirche wollen mit dieser "Geste der Verantwortung" zum Ausdruck bringen, dass die Republik das unfassbare Leid von ehemaligen Heimkindern, die in der Zweiten Republik schweres Unrecht erlitten haben, mitsamt seiner lebenslangen Konsequenzen anerkennt und Lehren daraus gezogen hat. Republik und Kirche kommen damit einer langjährigen Forderung der Betroffenen nach.

Die Rede von Nationalratspräsidentin Doris Bures im Wortlaut:

- Es gilt das gesprochene Wort –

Manchmal sucht man nach Worten, aber man findet nur Tränen. Diese Sprachlosigkeit müssen wir heute überwinden, um zu benennen, was tausende junge Menschen in unserer Obhut erleiden mussten. Über Jahrzehnte hinweg, inmitten unserer Gesellschaft, inmitten unserer Republik.

Es waren Kinder. Kinder die nicht auf der Sonnenseite ins Leben starten konnten. Sie wurden aus ihren Familien gerissen und fanden sich in Heimen der öffentlichen Hand oder der Kirche wieder.

Dort hätten sie – wie alle Kinder – Fürsorge und Liebe, Schutz und Geborgenheit gebraucht. Aber sie haben Gewalt und Missbrauch, Demütigung, Gleichgültigkeit, Kälte und Einsamkeit erfahren. Hilfe wurde ihnen nur selten zuteil, die Kontrolle versagte, das kollektive Wegschauen hatte System.

Vielen Kindern wurden tiefste körperliche und seelische Wunden geschlagen, sie wurden ihrer Würde beraubt. Und vielen wurde nicht nur die Kindheit genommen, sondern auch die Chance auf ein unbeschwertes und selbstbestimmtes Leben. Denn frühe Jahre in Dunkelheit werfen oftmals einen lebenslangen Schatten.

Die Kinder von damals wurden, auch als sie erwachsen waren, lange Zeit allein gelassen. Viele konnten nicht über die Zeit im Heim oder der Pflegefamilie sprechen und die, die die Kraft fanden, sind lange nicht gehört worden.

Leugnen, Verdrängen, Vergessen – das waren die Bausteine der hohen Mauer, die unsere Gesellschaft vor diesen Menschen errichtet hat. Erst vor wenigen Jahren hat diese Mauer Risse bekommen. Das ist vor allem das Verdienst jener Frauen und Männer, die über das Erlebte gesprochen und hartnäckig dafür gekämpft haben, dass ihnen geglaubt wird.

Unsere Gedanken sind heute aber auch bei jenen vielen Menschen, die das Erlittene – Ihre Wunden und Narben – im Verborgenen tragen. Menschen, die noch nie darüber sprechen konnten und es vielleicht auch nie werden. Und unsere Gedanken sind auch bei jenen, die an ihren Wunden und Narben zerbrochen sind, die die Last ihres Lebens nicht mehr tragen konnten.

In den vergangenen Jahren haben sich Kommissionen der Länder und der Kirche, aber auch WissenschaftlerInnen und ExpertInnen unterschiedlicher Disziplinen mit der systematischen Gewalt in den Kinderheimen auseinandergesetzt.

Diese ernsthaften Bemühungen um die schwierige Aufarbeitung des Geschehenen verdienen Anerkennung. Eine Reihe von Berichten bietet heute die unverzichtbare Basis für weitere Forschungsarbeit: auch über die Täter im Gewaltsystem. Denn im Sinne der Prävention müssen wir auch wissen, warum aus betreuenden Menschen sadistische Unmenschen wurden. Nicht außer Acht zu lassen ist dabei die im Nachkriegsösterreich fortwirkende NS-Ideologie. Sie hat den Wert des menschlichen Lebens nachhaltig relativiert.

Stellvertretend für alle Frauen und Männer, die dieses Leid ertragen mussten, heiße ich Sie im Parlament willkommen. Ich bedanke mich sehr, dass Sie hier sind, obwohl Ihnen das wahrscheinlich sehr viel Kraft abverlangt.

Dieser Staatsakt ist eine Geste, eine Geste der Verantwortung. Er kann und soll keinen Schlussstrich unter offene Diskussionen und unter die Aufarbeitung setzen. Es geht darum, dass Staat und Kirche gemeinsam das Unrecht benennen, anerkennen und ihre Schuld eingestehen.

Ich weiß, dass nicht entschuldbar ist, was Ihnen in jungen Jahren widerfahren ist. Ich weiß, dass nichts das Geschehene ungeschehen machen kann. Was Ihnen widerfahren ist, ist eine Schande für unser Land. Ich stehe hier – und schäme mich dafür.

Auch heute sind viele Menschen in unserer Gesellschaft auf Hilfe und Obhut in Heimen angewiesen: Menschen mit Behinderungen, Kranke und immer mehr alte, pflegebedürftige Frauen und Männer. Vieles, sehr vieles, hat sich zum Besseren verändert. Aber wir müssen dennoch stets wachsam sein. Denn die Würde von Menschen ist dort besonders leicht verletzbar, wo Abhängigkeit besteht.

Es liegt leider nicht in unserer Macht, Missbrauch und Gewalt durch einzelne Täter für immer zu verhindern. Was aber in unserer Macht und in unser aller Verantwortung liegt, ist, zu verhindern, dass Missbrauch und Gewalt – wie einst – still geduldet, systematisch vertuscht und kollektiv geleugnet werden. Das Versagen darf sich nicht wiederholen. Nicht heute, nicht morgen – nie wieder! (Schluss) red

HINWEIS: Fotos von diesem Staatsakt finden Sie auf der Website des Parlaments unter www.parlament.gv.at/aktuelles/mediathek/fotos