Parlamentskorrespondenz Nr. 42 vom 19.01.2017

Arena Analyse 2017 sieht Demokratie in Bedrängnis

Aktuelle Studie im Parlament präsentiert

Wien (PK) – Die Demokratie gerät unter Druck. Und zwar sowohl von innen als auch von außen. Zu diesem Befund kommt die Arena Analyse 2017, die heute auf Einladung von Zweitem Nationalratspräsidenten Karlheinz Kopf im Parlament präsentiert wurde. Seit 2006 befragen die Public-Affairs-Berater von Kovar & Partners systematisch Dutzende Expertinnen und Experten, um Themen zu identifizieren, die allmählich an die Oberfläche dringen und in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen werden. 61 Personen aus den Bereichen Politik, Wissenschaft, Justiz, Wirtschaft, Kultur und Gesundheit haben sich an der Studie über den Zustand der Demokratie beteiligt, ihre Einschätzungen wurden, verknüpft mit aktuellen wissenschaftlichen Beiträgen, zur Arena Analyse "Demokratie neu starten" zusammengefasst.

Sukkus der Studie: Die Demokratie ist in Verruf geraten. Das westliche Modell "Marktwirtschaft plus liberale Demokratie" verliert nicht nur an Anziehungskraft für Menschen aus Staaten, in denen es noch nicht etabliert ist. Auch in Europa und den USA wird am demokratischen System in der bestehenden Form gerüttelt. Die meisten der befragten ExpertInnen sehen – nicht zuletzt wegen des wachsenden Vertrauensverlustes großer Teile der Bevölkerung in die Politik und in etablierte Institutionen – autoritäre Strömungen und Akteure im Vormarsch.

Ein Patentrezept zum Gegensteuern bietet die Studie nicht. Die ExpertInnen empfehlen aber unter anderem, die BürgerInnen stärker in den Gesetzgebungsprozess einzubinden und Politische Bildung auch im Erwachsenenbereich zu forcieren. Wem die EU ein Anliegen sei, müsse sich überdies stärker für die Wiederbelebung des europäischen Gedankens engagieren, sind die drei AutorInnen der Studie – Walter Osztovics, Andreas Kovar und Bettina Fernsebner-Kokert – überzeugt.

Als "spannendes Werk", das jeder lesen solle, dem die Demokratie bzw. Österreich am Herzen liege, bezeichnete ÖVP-Verfassungssprecher Wolfgang Gerstl in Vertretung von Kopf die Studie. Es sei erschreckend, dass sich offenbar viele Jugendliche mit einer anderen Staatsform als der Demokratie anfreunden können, nur zur Erreichung ihrer Zwecke, spielte er auf eine in der Arena Analyse zitierte Studie an.

Als wirksamstes Mittel gegen das zunehmende Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Politik sieht Gerstl in Einklang mit der Arena Analyse mehr Transparenz und mehr Partizipation. Zudem müsse man den Parlamentarismus stärken. Es gehe nicht darum, "dass Hände gehoben werden", es gehe darum, dass der Souverän eine entsprechende Vertretung habe. Schon bei der geplanten Wahlrechtsreform oder bei der Diskussion über die Neugestaltung der Rechte des Bundespräsidenten könnte man einen offenen Prozess starten, meinte er. Wie viele andere auch skeptischer geworden ist Gerstl, was die direkte Demokratie betrifft: Er hält es für sinnvoll, diese zunächst auf kommunaler bzw. regionaler Ebene zu lernen.

Die Konsultative als neue vierte Gewalt?

Noch bei keiner Arena Analyse wurde so deutlich gesagt, dass man möglicherweise vor einer Zeitenwende stehe, hob Autor Walter Osztovics hervor. Viele würden die Gefahr sehen, dass mit einem Ende der offenen Grenzen auch die offene Gesellschaft abgeschafft wird. Die liberale Demokratie westlichen Zuschnitts komme unter Druck, als Gegenmodelle gewinnen auf der einen Seite der religiös motivierte autoritäre Staat und auf der anderen Seite die gelenkte Demokratie nach dem Vorbild Russlands an Zuspruch, wobei erstgenannter seine Attraktivität gerade daraus ziehe, antiliberal und antimodern zu sein.

Weitgehend einig sind sich die TeilnehmerInnen der Arena Analyse Osztovics zufolge, dass der immer wieder beklagte Populismus nicht die Ursache für die Verwerfungen der Demokratie ist, sondern ein Krisensymptom. Wobei er es als wesentliches Kennzeichen von Populisten sieht, dass sie Pluralismus ablehnen und negieren, dass es eine vielfältige Gesellschaft mit verschiedenen Interessen gibt. Vielmehr werde ein einziger Gegensatz, und zwar zwischen dem wahren Volk, das sie vertreten, und einem wie immer gearteten "Establishment", konstruiert. Populistische PolitikerInnen seien nicht a priori antidemokratisch, sie wollten ja dem Volk die Stimme geben, hielt Osztovics fest, ihr Wahrheitsanspruch stelle aber eine Gefahr für die Demokratie dar. Das zeige sich auch daran, dass Populisten, wenn sie Abstimmungen verlieren, das stets als Zeichen sehen, dass etwas faul bei der Abstimmung war.

Um aus der Krise der Demokratie herauszukommen, hält Osztovics zwei Begriffe für wesentlich: Transparenz und Partizipation. Es brauche nachvollziehbare Entscheidungen sowie eine überzeugende Möglichkeit für die Bevölkerung mitzureden. Zur Diskussion stellte Osztovics etwa eine vierte Gewalt im Staat neben der Exekutive, der Legislative und der Judikative, nämlich die Konsultative. Jeder Gesetzentwurf könnte einem zufällig ausgewählten Kreis von BürgerInnen zur Begutachtung vorgelegt werden.

Im an die Präsentation anschließenden Podiumsgespräch plädierte die Politikwissenschaftlerin und Philosophin Lisa Herzog von der Hochschule für Politik in München gegenüber Petra Stuiber, Chefin vom Dienst beim "Standard", dafür, einen stärkeren Fokus auf das Problem der sozialen Ungleichheit in der Gesellschaft zu richten. Es gehe den Leuten nicht wirklich schlecht, meinte sie, das Gefühl, dass es da oben eine Gruppe gebe, die sich nicht deshalb durchsetze, weil sie über die besten Argumente verfüge, sondern weil sie finanzielle oder politische Macht habe, könne sich aber fatal auf den Zusammenhalt einer Gesellschaft auswirken.

Arena Analyse 2017: Demokratie neu starten

Die Arena Analyse 2017 wurde in Kooperation mit der Tageszeitung "Der Standard" sowie der Österreich-Ausgabe der Wochenzeitung "Die Zeit" durchgeführt. In insgesamt acht Kapitel werden die Ergebnisse der offenen Befragung von rund 60 ExpertInnen zusammengefasst und mit aktuellen wissenschaftlichen Beiträgen verknüpft. Dass sich die repräsentative Demokratie in der Krise befindet, ist dabei für die AutorInnen evident. Als eines der Zeichen dafür sehen sie, dass es der jüngeren Generation offenbar nicht mehr so wichtig ist, ob sie in einer Demokratie lebt oder nicht, wie eine aktuelle Studie der Johns Hopkins University nahelegt. Auch viele der befragten ExpertInnen orten ein Erstarken autoritärer Strömungen und antidemokratischer Einstellungen.

Nicht nur die Unzufriedenheit mit den Regierenden lässt laut Studie den Wunsch nach einer starken Hand aufkommen, auch die Hoffnung, dadurch den gesellschaftlichen Wandel aufhalten zu können, spielt eine Rolle. Wenn sich das Auftauchen von Flüchtlingen durch die Demokratie nicht verhindern lasse oder die Globalisierung auf demokratischem Weg nicht zu stoppen sei, dann tauge die Demokratie eben nicht zur Verteidigung der eigenen Interessen, könnte man überspitzt formulieren, meinen Osztovics und seine beiden Co-AutorInnen. Zwar sehen die befragten ExpertInnen keine akute Gefahr, dass in den westeuropäischen Ländern über Nacht Diktaturen errichtet werden, man müsse aber gegensteuern, wolle man verhindern, dass in immer mehr europäischen Ländern die Demokratie auf Dauer untergraben werde.

Als Ursache für die Erosion der repräsentativen Demokratie wurden im Rahmen der Arena Analyse drei Cluster herausgearbeitet, wobei vorrangig die Enttäuschung über die mangelnde Performance der gewählten VertreterInnen und das Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis beim Zustandekommen politischer Entscheidungen genannt werden. Bevor noch die Arbeit des Gesetzgebers, also des Parlaments, beginnt, sei die Entscheidung bereits getroffen worden. Das stoße viele vor den Kopf.

Immer mehr Wählerinnen und Wähler hätten überdies den Eindruck, dass die Politik die großen Probleme nicht löst und sich daran auch nach noch so vielen Wahlen und Regierungswechsel nichts ändere. Der Vertrauensverlust gegenüber den Regierenden, denen es nach Einschätzung vieler nicht mehr gelingt, Wohlstand und Sicherheit zu schaffen, schlage um in ein Misstrauen gegen das System. Darüber hinaus kommt es den StudienautorInnen zufolge auffallend häufig zur Gleichsetzung der Volksvertreter mit "Eliten" und "Experten", wobei beide Gruppen rhetorisch als Gegenpol zum Volk verstanden würden. Die repräsentative Demokratie werde als "Diktatur der Eliten" gesehen, die "abgehobene Entscheidungen" treffe und keine Ahnung von den wahren Bedürfnissen der kleinen Leute habe.

Dazu passt auch die zunehmende Abwertung von Fakten und die steigende Skepsis gegenüber ExpertInnen, die als Teil des Establishments gesehen werden. Das lange vorherrschende Narrativ, dass die Regierenden und ExpertInnen besser wüssten, was gut für die Menschen ist, sei mit den Umbrüchen des Jahres 2016 – siehe Brexit, Trump & Co – abgewählt worden, stellen Osztovics & Co eine These des Politologen Ivan Krastev in den Raum. Die Zukunft lautet nach Einschätzung der TeilnehmerInnen an der Arena Analyse demnach auch: "Emotionen statt Fakten". Die gängige Gegenstrategie, den Leuten ihre Ängste durch Darstellung von Fakten zu nehmen, sei deshalb aussichtslos, meint ein Experte, starke Emotionen könnten nur dadurch abgemildert werden, dass man entgegengesetzte Emotionen mobilisiere. "Die Zeiten des rationalen Diskurses sind am Ende", so die düstere Prognose.

Bemerkenswert ist die Feststellung der AutorInnen, dass die Gegenüberstellung von "abgehobenen" VolksvertreterInnen und dem unverstandenen Volk durch den seit langem beobachtbaren Trend zur Professionalisierung der Politik befördert wurde. Abweichend vom Idealbild des Volksvertreters, der sich neben seinem zivilen Beruf auch um die res publica kümmere, seien mittlerweile, nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Komplexität der politischen Arbeit, BerufspolitikerInnen in den Vordergrund getreten, die eine mehr oder weniger homogene Gruppe bilden. Ihnen wird auf der einen Seite vorgeworfen, keine Lösungen für anstehende Probleme zu haben, vielfach wird aber auch "Leadership" vermisst.

EU in der Zwickmühle

Als drittes Cluster für die Erosion der repräsentativen Demokratie nennt die Studie die Konstruktion der EU. Selbst Wohlmeinenden würde es schwer gemacht, den politischen Willen der Bürgerinnen und Bürger in den heikel ausbalancierten Entscheidungen aus Brüssel wiederzuerkennen, halten die AutorInnen fest. Dabei finde bei der Entstehung von Verordnungen und Richtlinien der EU in der Regel wesentlich mehr an demokratischer Mitbestimmung statt als in der nationalen Gesetzgebung.

Man sei jedoch in einer Zwickmühle: Wenn die EU das Prinzip der Repräsentation ernst nehme, fallen Entscheidungen zwangsläufig weit weg von den BürgerInnen. Verlagere man Entscheidungen stärker in die nationalen Parlamente, dann wachse die Macht der Blockierer und Nein-Sager, wodurch Missverhältnisse entstünden, die erst wieder jedem Verständnis von Demokratie widersprechen. Als Beispiel wird etwa das Tauziehen rund um die Unterzeichnung von CETA angeführt, wo weniger als 1,5 Millionen BürgerInnen der Wallonie in die Lage versetzt wurden, über das Schicksal der übrigen 508,5 Millionen EU-BürgerInnen zu entscheiden, eine Gruppe von 2,9 Promille hatte also größeres Gewicht als die übrigen 99,71%.

Direkte Demokratie hat sich selbst diskreditiert

Dass mehr direkte Demokratie ein Ausweg aus der konstatierten Krise sein könnte, bezweifeln die AutorInnen. Diese habe sich zuletzt – Beispiel Stichwort Brexit – selbst diskreditiert. Nicht weil das Referendum anders ausgegangen ist, als von vielen erwartet, wie Osztovics betont, sondern weil im Vorfeld kein rationaler Diskurs mit sachlichen Argumenten möglich gewesen sei. Stattdessen hätten stark emotionalisierte Debatten mit überzogenen Argumenten und mit zum Teil krass falschen Behauptungen dominiert. Das gleiche gelte für die Abstimmung in den Niederlanden über das EU-Abkommen mit der Ukraine und das italienische Referendum über die Verfassungsreform.

Auch insgesamt orten die AutorInnen in dieser Frage einen Paradigmenwechsel. Habe bis vor kurzem der Ausbau der direkten Demokratie als unvermeidlicher nächster Evolutionsschritt für jedes bürgernahe politische System gegolten, sei die Skepsis mittlerweile gestiegen. Liege doch inzwischen die unangenehme Frage auf dem Tisch, ob Volksbegehren, Volksbefragungen und Volksabstimmungen nicht fragwürdige Instrumente seien, die lediglich den Schein des Mitbestimmens erweckten, in Wahrheit aber bestehende Konflikte verstärkten und zudem sehr anfällig für den Missbrauch durch Demagogen seien. Durch das Reduzieren der Probleme auf ein binäres Ja oder Nein finde der Kompromiss, eine der wesentlichen Leistungen einer funktionierenden repräsentativen Demokratie, dort keinen Platz.

Zudem brächten Referenden mehr oder weniger irreversible Entscheidungen, die, anders als Parlamentsbeschlüsse, nur schwer wieder korrigiert werden können, machen die AutorInnen geltend. Schließlich habe das Volk das letzte Wort gesprochen. Selbst wenn Umfragen zeigen sollten, dass sich die öffentliche Meinung ganz massiv verändert habe, wäre die Wiederholung eines Referendums in jeder Situation ein ziemlich dubioser Schritt. Von einem der befragten Experten in die Diskussion geworfen wird auch der Begriff "Plebiszitpopulismus": "Man reicht die Probleme, die man nicht lösen kann, an die Wähler weiter und propagiert, dass damit alles besser wird". Trotzdem, so erwarten die TeilnehmerInnen der Arena-Analyse, werde der Einsatz von Referenden zunehmen.

Hoffnung Zivilgesellschaft

Große Hoffnung in Bezug auf die Erneuerung der Demokratie setzen die ExpertInnen in die Zivilgesellschaft – sozusagen als Gegenpol zur "konsistenten selbstreferentiellen Blase von Politikern, politischen Parteien, Interessenvertretungen und Medien", wie ein Teilnehmer der Arena Analyse formuliert. Man müsse aber darauf achten, dass man bestimmte Gruppen nicht von zivilgesellschaftlichem Engagement und Bürgerbeteiligung ausschließe, warnen Osztovics und seine beiden Co-AutorInnen. Schließlich sei auch die Zivilgesellschaft im Grunde eine Elite, wenn auch eine Gegen-Elite zum politischen Establishment. Kritisch beleuchtet wird in diesem Zusammenhang auch die zunehmende Macht von NGOs, die in der Bevölkerung hohe Glaubwürdigkeit hätten, deren moralischer Anspruch Kompromisse aber oft unmöglich mache, wie die Studie darlegt.

Als Ausweg aus der Krise bieten sich nach Meinung der ExpertInnen mehr Transparenz bei politischen Entscheidungen und überzeugende Möglichkeiten politischer Teilhabe an. Es wäre schon ein großer Gewinn an Demokratie, wenn die Bevölkerung mitreden und Vorschläge einbringen könnte, selbst wenn die Entscheidungen dann in formalen Gremien fallen, heißt es in der Studie, wobei man dabei die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen könnte. Öffentliche Ausschusssitzungen würden zudem die parlamentarische Arbeit transparenter machen. Eine weitere Empfehlung: Die politischen Parteien und demokratischen Institutionen sollen in den sozialen Medien präsent sein und sie nicht den Simplifizierern überlassen.

Kurz angerissen werden in der Arena Analyse auch die Ideen der "Ökokratie" und der "Soziokratie". Bei der ersten geht es darum, Fragen, die den Klimawandel oder den Verbrauch von Ressourcen betreffen, demokratisch nicht verhandelbar zu machen. Die zweite geht von der Entwicklung einer konkurrierenden Gesellschaft zu einer Gesellschaft aus, in der Kooperation und Partizipation die Grundwerte bilden, wo nicht mehr "ein Mensch – eine Stimme" gilt, sondern, zum Schutz schwacher Minderheiten, das Recht des Einwands.

Die Arena Analyse 2017 steht auf der Website von Kovar & Partners (www.publicaffairs.cc) zum Download zur Verfügung. (Schluss) gs

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie auf der Website des Parlaments unter www.parlament.gv.at/aktuelles/mediathek/fotos.