Parlamentskorrespondenz Nr. 950 vom 14.09.2018

Wahlrecht: Größere Reformen sind vorerst nicht in Aussicht

Gedankenaustausch zwischen Politikern und ExpertInnen im Parlament

Wien (PK) – Nicht erst seit der Aufhebung der Bundespräsidenten-Stichwahl durch den Verfassungsgerichtshof (VfGH) im Juli 2016 und der wegen fehlerhafter Briefwahlkuverts später notwendigen Verschiebung der Stichwahl-Wiederholung wird in Österreich über eine Reform des Wahlrechts diskutiert. Lange Zeit nahmen etwa Vorschläge zur Einführung eines minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrechts zur Erleichterung von Regierungsbildungen in der öffentlichen Debatte einen breiten Raum ein. Auch die Forderung nach einem Ausbau des Persönlichkeitswahlrechts bzw. einer stärkeren Gewichtung von Vorzugsstimmen wird immer wieder laut. Auf einige organisatorische Mängel bei der Abwicklung der Bundespräsidentenwahl hat das Parlament zwar unmittelbar nach dem VfGH-Erkenntnis reagiert, eine angedachte größere Wahlrechtsreform fiel aber den vorgezogenen Nationalratswahlen 2017 zum Opfer.

Nun will Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka den Diskussionsprozess wieder ankurbeln. Zum Auftakt lud er gestern Abend ExpertInnen und PolitikerInnen zu einem Meinungsaustausch in das Palais Epstein ein. Wo, wenn nicht im Parlament, solle über das Wahlrecht diskutiert werden, hielt Parlamentsdirektor Harald Dossi in Vertretung des verhinderten Nationalratspräsidenten bei der Eröffnung der Veranstaltung fest.

Größere Änderungen im Wahlrecht zeichnen sich allerdings, folgt man den Ausführungen der Verfassungssprecher der Parlamentsparteien, nicht ab. Zumindest auf einige technische Reformen könnte man sich in dieser Legislaturperiode aber doch einigen, glaubt FPÖ-Abgeordneter Harald Stefan. Seitens der Oppositionsparteien äußerten Peter Wittmann (SPÖ), Nikolaus Scherak (NEOS) und Alfred Noll (PILZ) jedenfalls Gesprächsbereitschaft. Die Initiative müsste allerdings aus dem Parlament kommen, wie der Wahlrechtsexperte des Innenministeriums Robert Stein betonte. Eher zurückhaltend äußerte sich ÖVP-Verfassungssprecher Wolfgang Gerstl, er sieht grundsätzlich keinen großen Reformbedarf.

Innenministerium hat Reihe von Reformvorschlägen gesammelt

An Reformvorschlägen mangelt es jedenfalls nicht. So präsentierte Stein eine ganze Liste von Änderungswünschen, die an das Innenministerium herangetragen wurde, wobei ein Großteil davon dem Komplex "Wahlkarten und Briefwahl" zuzuordnen ist. Dazu gehören etwa die Forderung nach einem Vorwahltag zur Eindämmung der Zahl der Wahlkarten, die Auszählung der Briefwahlstimmen bereits am Wahltag und der frühere Versand von Wahlkarten. Die Sache ist allerdings nicht so einfach, wie Stein anschaulich schilderte – man müsse jeweils auch die "Nebenwirkungen" etwaiger Reformschritte berücksichtigen. So stelle sich bei einem Vorwahltag etwa das Problem der Lagerung und Versiegelung der Wahlurnen, zudem sei es fraglich, ob die Wahlbehörden überall in beschlussfähiger Zusammensetzung tätig werden können. Etliche Wünsche seien überdies nur umsetzbar, wenn man gewisse Fristen, etwa die Deadline zur Einbringung von Wahlvorschlägen, vorverlege.

Klar ist für Stein, dass die Initiative für eine Wahlrechtsänderung vom Parlament ausgehen muss. Diese Vorgangsweise sei auch in der Vergangenheit üblich gewesen. Das Innenministerium stelle gerne seine Expertise bei der Ausarbeitung konkreter Gesetzestexte zur Verfügung. Wichtig ist dem Ressort jedenfalls, dass Bestimmungen, die ein Eingangstor für Wahlanfechtungen bieten können, vermieden werden.

OSZE urgiert mehr Transparenz bei Wahlkampffinanzierung

Eine Auswahl der Reformvorschläge des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) der OSZE präsentierte Martina Barker-Ciganikova. Die Vorschläge sind das Ergebnis der mittlerweile vierten Wahlberatungsmission von ODIHR in Österreich anlässlich der Nationalratswahl 2017.

Unter anderem urgiert die OSZE mehr Transparenz bei der Wahlkampffinanzierung und effektive Sanktionen bei Verstößen gegen die gesetzlichen Vorgaben. Der Rechnungshof habe nur eine eingeschränkte Kontrollmöglichkeit im Hinblick auf die Finanzgebarung der Parteien, zudem gebe es keine speziellen Berichtspflichten bezüglich der Wahlkampffinanzierung, kritisierte Barker-Ciganikova. Auch seien die Sanktionen, etwa bei Verstößen gegen die Wahlkampfkostenobergrenze, wenig abschreckend. Ein Dorn im Auge ist Barker-Ciganikova außerdem, dass KandidatInnen gleichzeitig Mitglied einer Wahlbehörde sein können, keine Wahlbeobachtung durch zivilgesellschaftliche Organisationen in Österreich möglich ist und es vor einer Wahl kaum Beschwerdemöglichkeiten für Betroffene, etwa bei Verweigerung einer Kandidatur, gibt.

Ein wesentliches Anliegen ist der OSZE außerdem eine ausdrückliche Garantie für BürgerInnen, was den Zugang zu Informationen betrifft. Dass es keine Informationsfreiheit gebe, wirke sich auch auf Teile des Wahlprozesses negativ aus. So würden Entscheidungen und Protokolle von Wahlbehörden nicht öffentlich gemacht und Medien der Zugang zu Dokumenten verwehrt. In dieselbe Richtung stieß auch die Kritik von Armin Rabitsch von der privaten Initiative "wahlbeobachtung.org" – er hält die Abschaffung der Amtsverschwiegenheit und die Schaffung eines Grundrechts auf Zugang zu Informationen für überfällig.

Rabitsch: Wahlkarten sollen bereits am Wahltag ausgezählt werden

Auch im österreichischen Wahlrecht hält Rabitsch einiges für verbesserungswürdig, wobei er sich für einen konsultativen und partizipativen Reformprozess stark machte. Österreich befinde sich bei einem internationalen Demokratieranking zwar im Spitzenfeld, allerdings liege es etwa hinter den skandinavischen Ländern, Deutschland und der Schweiz, skizzierte er. 37 Empfehlungen der OSZE würden zudem einer Umsetzung harren.

Konkret sprach sich Rabitsch u.a. dafür aus, die Wahlkarten bereits am Wahltag auszuzählen, auch wenn das gewisse Einschränkungen für Wahlkarten-WählerInnen mit sich bringe. Zudem plädierte er dafür, das System der Vorzugsstimmen zu vereinfachen, auch neutrale Personen als Wahlbeisitzer zuzulassen, die Öffnungszeiten der Wahllokale zu vereinheitlichen und alle Wahlbeisitzer gleich zu entschädigen. Um die Chancen von Frauen auf den Einzug in den Nationalrat zu erhöhen, kann er sich außerdem positive Anreize über die staatliche Parteienförderung vorstellen.

Noch vor den Europawahlen im Frühjahr geändert werden müssen Rabitsch zufolge die Bestimmungen zur Briefwahl. Das derzeit in Verwendung stehende Wahlkuvert ohne Lasche widerspricht seiner Einschätzung nach der Datenschutzgrundverordnung. Der Wahlrechtsexperte des Innenministeriums Stein teilt diese Rechtsansicht allerdings nicht.

Gerstl ortet Reihe von Widersprüchen bei Reformvorschlägen

Seitens der Parlamentsparteien dämpfte ÖVP-Verfassungssprecher Wolfgang Gerstl zu große Erwartungen. "Zu verbessern gibt es immer etwas", meinte er, viele Reformvorschläge würden aber – bei gleichzeitig sehr unterschiedlicher Interessenslage – einer Verfassungsmehrheit bedürfen. Außerdem ortet Gerstl eine Reihe von Widersprüchen bei den Reformwünschen. So könne man nicht gleichzeitig eine Stärkung des Persönlichkeitswahlrechts fordern und gleichzeitig einen zu niedrigen Frauenanteil im Nationalrat kritisieren. Eine Bekanntgabe des endgültigen Wahlergebnisses am Wahltag – inklusive Briefwahlstimmen – würde außerdem bedeuten, dass die Wahlkarten bereits am Mittwoch bei der Behörde eingelangt sein müssen. Damit würde man viele Leute von der Wahl ausschließen.

Gerstl machte außerdem geltend, dass der Bericht der OSZE-Wahlberatungsmission weitgehend positiv ausgefallen sei. So wird unter anderem festgehalten, dass die Nationalratswahl bezeugt habe, dass Österreich über eine lebendige Demokratie verfüge. Zudem habe die OSZE den Wahlvorgang als effizient bewertet und festgestellt, dass den Wahlbehörden seitens der Bevölkerung ein hohes Maß an Vertrauen entgegengebracht werde. Mit einer Wahlbeteiligung von 80% sei Österreich überdies Vorbild.

Wittmann sieht Wunsch nach mehr Transparenz und Rechtssicherheit

Auch SPÖ-Verfassungssprecher Peter Wittmann ist mit dem Wahlsystem in Österreich grundsätzlich zufrieden. Das System sei nicht so schlecht, meinte er. Allerdings brauche es regelmäßig Reformen, da sich der gesellschaftliche Anspruch verändere. So gebe es heute andere Ansprüche an Transparenz und Rechtssicherheit als noch vor zehn Jahren. Niemand könne sich etwa gegen den Wunsch verwehren, das endgültige Wahlergebnis bereits am Wahltag zu erfahren, auch wenn dieser im Spannungsverhältnis zu anderen Anliegen stehe. Auch eine gewisse Harmonisierung des Wahlrechts auf Bundes- und Landesebene und eine Öffnung der Wahlbehörden für Zivilpersonen entspricht seiner Ansicht nach dem Zug der Zeit. Nicht teilen wollte Wittmann die Einschätzung, dass es angesichts der aktuellen politischen Lage schwierig sei, Verfassungsmehrheiten für notwendige Reformen zu finden.

Stefan will Briefwahl eindämmen und lehnt E-Voting ab

Grundsätzlich zuversichtlich äußerte sich auch FPÖ-Verfassungssprecher Harald Stefan. Es sieht zwar keinen besonderen Zeitdruck, geht aber davon aus, dass es noch in dieser Legislaturperiode gelingen wird, einige wahltechnische Reformen zu beschließen, etwa was die Stimmenauszählung und die Abholung von Wahlkarten betrifft.

Stefan selbst ist es unter anderem ein Anliegen, die Zahl der BriefwählerInnen zu reduzieren. Das könnte man seiner Meinung nach etwa durch eine persönliche Abholung und Abgabe der Wahlkarte bei der Gemeinde erreichen. Die meisten der derzeitigen Missstände seien mit der Briefwahl verbunden, zudem habe diese den Nachteil, dass wichtige Wahlgrundsätze wie die geheime und unbeeinflusste Wahl nicht gewährleistet seien, betonte er.

Skeptisch ist Stefan, was eine stärkere Gewichtung von Vorzugsstimmen betrifft. Es sei nicht immer so, dass sich der Beste durchsetze, sondern der, der die besten Möglichkeiten habe, sich zu präsentieren, gab er zu bedenken. Das seien oftmals Männer bzw. Kandidaten mit organisatorischem Hintergrund. Ausdrücklich abgelehnt wird von ihm auch die Möglichkeit des E-Votings, da die WählerInnen nicht die Möglichkeit hätten, etwaige Manipulationen zu überprüfen.

Scherak urgiert einheitlichen Beginn der Stimmauszählung

Trotz unterschiedlicher Wahrnehmungen und Vorstellungen könnte man etwas weiterbringen, zeigte sich NEOS-Abgeordneter Nikolaus Scherak gesprächsbereit. Er vermisst allerdings Initiativen der Regierungsparteien. Seit der Bundespräsidentenwahl habe sich nicht viel getan.

Inhaltlich schloss sich Scherak etlichen Forderungen der ExpertInnen an, etwa was abschreckende Sanktionen bei Überschreitung der Wahlkampfkostenobergrenze, eine Öffnung der Wahlbehörden für neutrale Wahlbeisitzer und eine bundeseinheitliche Aufwandsentschädigung für Wahlbeisitzer betrifft. Auch kann er sich mehrere Vorwahltage vorstellen. Ein einziger Vorwahltag könnte seiner Meinung nach allerdings problematisch sein, da veröffentlichte Exit-Polls WählerInnen beeinflussen können. Als schwierig umsetzbar sieht Scherak einheitliche Wahlöffnungszeiten, er plädierte aber für einen einheitlichen Beginn der Stimmauszählung um 17 Uhr.

Noll fordert Senkung der 4%-Hürde für Einzug in den Nationalrat

Dass das Wahlergebnis schon am Wahltag feststeht, sei ihm persönlich nicht so ein großes Anliegen, hielt Scherak fest. Auch Alfred Noll (PILZ) hat in dieser Frage eine ähnliche Position. Wichtiger sei eine ordnungsgemäße Auszählung der Stimmen. Auch in anderen Ländern stehe das Ergebnis erst einige Tage nach der Wahl fest.

Noll sind vor allem zwei Punkte wichtig, wie er erklärte: Eine Halbierung der Wahlkampfkostenobergrenze auf 3,5 Mio. € mit verschärften Sanktionen bei einer Überschreitung sowie eine niedrigere Hürde für kleine Parteien für den Einzug in den Nationalrat. Die aktuelle Vier-Prozent-Hürde habe dafür gesorgt, dass die Grünen trotz 192.000 Stimmen nicht im Nationalrat vertreten sind, während für 177.000 abgegebene Stimmen im Burgendland fünf Mandate und für 104.000 abgegebene Stimmen in Vorarlberg vier Mandate verteilt wurden, brachte er vor. Hätte es eine Zwei-Prozent-Hürde gegeben, würden die Grünen mit ihrer Stimmenzahl vermutlich sogar in Klubstärke im Nationalrat vertreten sein.

Noll will außerdem die Stimmauszählung öffentlich machen und Unterstützungserklärungen für wahlwerbende Parteien erleichtern. Auch sollte es möglich sein, für mehrere Parteien eine Unterstützungserklärung abzugeben. Zudem outete sich der Abgeordnete als Anhänger der Briefwahl. Die Schweiz zeige, dass diese ohne Probleme funktionieren könne. Mit FPÖ-Abgeordnetem Harald Stefan teilte er hingegen die Ablehnung von E-Voting.

In der anschließenden Publikumsdiskussion ging es unter anderem um die Frage, welche Rahmenbedingungen es brauche, um das Wahlergebnis bereits am Wahltag bekanntgeben zu können. Die Stadt Wien sieht sich jedenfalls außerstande, die rund 200.000 Wahlkarten schon am Wahlsonntag auszuzählen, wie eine Verantwortliche berichtete. Auch der Umstand, dass viele Briefwahlstimmen ausgeschieden werden müssen, weil die Unterschrift auf der Wahlkarte fehlt, war Thema. Ein Behindertenvertreter mahnte Maßnahmen zur Verbesserung der Barrierefreiheit ein.

Keine Antwort von Seiten der Regierungsparteien gab es auf die Frage, ob in nächster Zeit mit Initiativen betreffend mehr Transparenz bei der Parteienfinanzierung und betreffend ein Informationsfreiheitsgesetz zu rechnen ist. SPÖ-Verfassungssprecher Peter Wittmann erwartet beim zweiten Punkt jedenfalls steigenden Druck von außen. In der letzten Legislaturperiode sei man bei den Verhandlungen über die Abschaffung der Amtsverschwiegenheit schon sehr weit gewesen, es sei nur noch um "Kleinigkeiten" gegangen, sagte er. (Schluss) gs

HINWEIS: Fotos von der Veranstaltung finden Sie auf der Website des Parlaments unter www.parlament.gv.at/aktuelles/mediathek/fotos .