Parlamentskorrespondenz Nr. 1347 vom 02.12.2020

Sobotka: Menschen mit Behinderung noch intensiver hereinholen

Sobotka betont bei Diskussion Bildung und Qualifikation als Schlüssel zur Barrierefreiheit im digitalen Bereich

Wien (PK) – Im Vorfeld zum Purple-Light-up-Day 2020 fand im Parlament als Auftakt eine Diskussionsveranstaltung statt, an der Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka teilnahm, ebenso Martin Essl von der Essl Foundation und Kurt Essler von der "AfB mildtätige und gemeinnützige Gesellschaft zur Schaffung von Arbeitsplätzen für behinderte Menschen". Geschäftsführende Vorständin der WAG Assistenzgenossenschaft Jasna Puscaric und die Geschäftsführerin von Microsoft Österreich Dorothee Ritz waren online zugeschaltet.

Der Purple-Light-up-Day ist eine weltweite Aktion, die dem "Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung" am 3. Dezember vorausgeht. Moderiert wurde die Veranstaltung von Purple-Light-up-Botschafterin Julia Moser von myAbility. Der Schwerpunkt der Diskussion lag auf Barrierefreiheit im Internet als Voraussetzung für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung und der Frage, welche Auswirkung sie auf Beschäftigungsverhältnisse hat.

Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka betonte, dass die COVID-19-Krise zu wichtigen Erkenntnissen geführt habe: "Wir sind viel schneller in digitale Prozesse gestartet, als angenommen und wie auch eine Studie gezeigt hat", sagte der Nationalratspräsident. "Digitalisierung ist ein enormer Umbruch. Aber die Krise legt auch Lücken offen: Es wird in der Technologie einen Schub geben müssen, der Menschen mit Behinderung noch intensiver hereinholt."

Die Digitalisierung bringe als Vorteile eine freiere Zeiteinteilung mit sich und damit mehr Lebensqualität, erläuterte Sobotka. Eine Lehre, die zu ziehen sei: Bildung und Qualifikation seien herausragend wichtig. "Die Unternehmen sind angehalten, MitarbeiterInnen entsprechende Qualifikationen anzubieten, forderte Sobotka. Für die Anwendung von Barrierefreiheit sei kein großes technisches Verständnis notwendig – eine Umschulung jedoch schon. Barrierefreiheit bedeutet für den Nationalratspräsidenten auch, dass man die Selbstständigkeit stärken muss.

Menschen mit Behinderungen hätten es derzeit in der Arbeitswelt besonders schwer, denn der massive Einbruch am Arbeitsmarkt habe diese Personengruppe überproportional betroffen, berichtete Moderatorin Julia Moser. Martin Essl betonte, dass "die Welt nach Corona nicht mehr dieselbe sein wird wie vorher" und stellte die Forderung nach Digitalisierung für jedermann an den Beginn seines Statements. "Warum leisten wir uns den Luxus, auf 15% der Menschen am Arbeitsmarkt zu verzichten?", stellte Martin Essl in den Raum. "Wir haben jetzt die Chance, durch Digitalisierung Menschen mit Behinderungen verstärkt mit einzubeziehen." Die Pandemie wäre ihm zufolge vor zehn Jahren ohne die aktuell ausgereiften Digitalisierungsmöglichkeiten noch viel problematischer gewesen. Er forderte, dass Digitalisierung und Barrierefreiheit gemeinsam gedacht werden müssen. Die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen sowohl in die technischen Entwicklungen als auch in wirtschaftliche Fragen sei eine unbedingte Notwendigkeit.

Jasna Puscaric sah Barrierefreiheit ebenfalls als zentral für Menschen mit Behinderungen an und forderte "jeden möglichen Zugang". Die Zeit der Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung müsste vorbei sein und diese Personengruppe müsste auch nach der Corona-Krise wieder am normalen Leben teilnehmen können, forderte Puscaric. Daher müsse Barrierefreiheit auch breiter gedacht werden.

Dorothee Ritz von Microsoft Österreich trat für einen neuen Blick auf den Begriff "Arbeit" ein: Arbeit sei eine Tätigkeit und nicht nur ein Ort. Arbeit könne vieles bedeuten. Jetzt sei die Chance da, Arbeit humaner zu gestalten. Behinderung sei dabei ein zentraler Faktor. Ebenso wie Martin Essl forderte Dorothee Ritz die Möglichkeit voller gesellschaftlicher Partizipation von Menschen mit Behinderung ein. Die technischen Voraussetzungen seien eine wesentliche Voraussetzung für die Anstellung von Menschen mit Behinderung. "Wir brauchen eine barrierefreie Kultur in Unternehmen", forderte sie. Dies bedinge auch andere Anspruchsverfahren, unterstrich Ritz. Als Beispiel nannte sie die Anstellung eines Menschen mit einer Erkrankung aus dem Autismusspektrum: Dieser brauche eine Eingewöhnungsphase; eine sofortige Einstellung würde hier nicht funktionieren; Ängste müssten überwunden werden. Ebenso wie Nationalratspräsident Sobotka sah Ritz Aus- und Weiterbildung als Schlüsselelemente an.

Wie Digitalisierung und Ökologie Hand in Hand gehen können, zeigt das Unternehmen AfB."Bei uns werden Geräte von großen Kunden übernommen und weitergegeben", berichtete Geschäftsführer Kurt Essler. "Jeder Prozess wird begleitet, Digitalisierung ist ein wesentlicher Punkt." Hervorzuheben sei auch die ökologische Komponente: "Kein Gerät landet auf der Müllhalde, alle werden repariert."

Wie können Unternehmen motiviert werden?

Eine Motivation für Unternehmen zur Barrierefreiheit könnte eine Zertifizierung sein, schlug Nationalratspräsident Sobotka vor. Gleichzeitig müsse man weg vom Denken in Kategorien hin zu einem Netzwerk. Dies sei eine Herausforderung für die Sozialpolitik, ebenso wie Studien, die valide Zahlen in vielen Bereichen brächten. Sobotka kritisierte eine vielerorts fehlende Flexibilität. "Wir lassen viele Talente am Weg, das kann man sich nicht leisten", so der Nationalratspräsident.

Martin Essl berichtete aus seiner ehemaligen langjährigen Praxis als Arbeitgeber für Menschen mit Behinderungen in seinen Baumärkten. Er sieht vor allem die bundesländerweise unterschiedlichen Regelungen in diesem Bereich als zentrales Hindernis und empfahl eine One-Stop-Shop-Lösung mit einer AnsprechpartnerIn für Unternehmen. Dies könne man auch kurzfristig lösen. Studien müssten in größerem Ausmaß als bisher durchgeführt werden, denn es gebe z.B. keine Anhaltspunkte, warum Menschen mit Behinderung aus der Ausbildung herausfallen würden.

Dorothee Ritz kritisierte, dass es manchen Unternehmen an einer flexiblen Denkweise mangle. Offenheit, Transparenz, Erfahrung – das seien die Werte, die Unternehmen zu Gute kämen. Man müsse Unternehmen ganz konkret darauf vorbereiten, so Ritz, "und das zu 100% inklusiv". Microsoft habe hier gute Erfahrungen gemacht. Für diese Herausforderung brauche es eine inklusive Unternehmensführung und viel Zeit für Aus- und Weiterbildung.

Kurt Essler nannte Bewusstseinsbildung als vorrangiges Ziel.

Jasna Puscaric meinte, Menschen mit Behinderungen müssten alle Unterstützungsmöglichkeiten nützen können, die sie brauchen. Es müsste mehr maßgeschneiderte Angebote geben. "Überall dort, wo sie an Grenzen stoßen, brauchen sie Unterstützung", sagte Essler. "Der Arbeitsplatz muss sowohl im Büro als auch zu Hause richtig ausgestattet sein." Behinderung könne auch eine zusätzliche Qualifikation bedeuten, die man ins Unternehmen bringe. Unternehmen seien gut beraten, wenn sie ihre Arbeitsplätze auch virtuell ausstatten.

Die digitale Welt im Jahr 2025

Nationalratspräsident Sobotka stellte in Aussicht, dass das Parlament 2022 barrierefrei fertiggestellt sein werde. Dann könne es Bewusstsein schaffen: Die MitarbeiterInnen beim Empfang seien geschult dafür, was Menschen mit Behinderungen brauchen. Genau dieses Bewusstsein müsste auch in der Bevölkerung vorhanden sein. In fünf Jahren sollte es ein Qualitätszertifikat für Barrierefreiheit mit festgelegtem Kriterienkatalog für Schulen und Bildung geben.

Martin Essl meinte, in fünf Jahren müsste es eine für alle nutzbare Technologie geben, egal welche Behinderung, welche Sprachkenntnisse usw. die NutzerInnen hätten. Diesbezüglich würden sich auch neue Berufsbilder entwickeln. "Alle müssen alle Möglichkeiten in dieser Welt haben", verlangte Essl.

"Wenn wir Technologien einsetzen, dann zu 100% inklusiv", so die Vision von Dorothee Ritz. Ebenso müssten die Übergänge zur physischen Welt geschaffen werden. "Unternehmen investieren heute viel, um Arbeitskräfte zu finden", hob Ritz hervor. "Wie machen wir Umwelt inklusiver – es ist ein Umdenken vor allem hinsichtlich Arbeitszeit und Arbeitsort. Wir könnten Riesenschritte in die richtige Richtung machen."

Für Kurt Essler ist Bewusstseinsbildung auch für die Zukunft der Schlüssel. Es gebe gewisse Tätigkeiten, die behinderte Menschen besser machen. "Sie sind oft sehr konzentrierte Menschen und arbeiten mit hohem Verantwortungsbewusstsein", erläuterte Essler.

Jasna Puscaric wünschte sich für die Zukunft, dass Unternehmen erkennen, was sie profitieren, wenn sie ArbeitnehmerInnen mit Behinderungen einstellen. Wichtig sei es, so Puscaric, dass sich die Arbeitslosenzahlen auf das allgemeine Niveau einpendelten. "In Zeiten von Homeoffice verschwimmen Arbeit und Privatleben", sagte sie. "Es wäre daher sinnvoll, ArbeitnehmerInnen mit Behinderungen auch im privaten Bereich mehr Unterstützung angedeihen zu lassen."

Nationalratspräsident Sobotka forderte, dass künftig alle wissen müssten, was Barrierefreiheit bedeute. Das Thema müsse deutlicher in der Bevölkerung ankommen. "Wir können uns keine geteilte Gesellschaft leisten", betonte Sobotka.

#PurpleLightUp

: Gebäude leuchten lila

Im Rahmen der globalen Kampagne #PurpleLightUp gibt es zahlreiche Gebäude in Österreich, die lila leuchten: In Wien sind dies nicht nur das Parlament, sondern auch das Bundeskanzleramt, einige Ministerien, das Leopoldmuseum und viele andere mehr. (Schluss) ibe

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie auf der Website des Parlaments.