Parlamentskorrespondenz Nr. 661 vom 01.06.2021

Präventive Menschenrechtskontrolle 2020: Trotz Einschränkungen ausführliche Prüftätigkeit der Volksanwaltschaft

Häufigste Beanstandungen im Bereich des Gesundheitswesens

Wien (PK) – Um die Überprüfung von öffentlichen und privaten Einrichtungen, in denen Menschen in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, geht es im zweiten Teil des Berichts der Volksanwaltschaft an den Nationalrat (III-224 d.B.). Im Rahmen des Nationalen Präventionsmechanismus hat die Volksanwaltschaft (VA) seit 2012 den verfassungsgesetzlichen Auftrag dazu, den sie durch sechs Kommissionen ausübt. Diese kontrollieren Einrichtungen wie Alten- und Pflegeheime, Krankenhäuser und Psychiatrien, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, Justizanstalten, Polizeianhaltezentren und Polizeiinspektionen, außerdem überwachen sie Zwangsakte der Exekutive.

Die Arbeit im Rahmen des Nationalen Präventionsmechanismus (NPM) wurde im Jahr 2020 von zwei Auswirkungen der Pandemie geprägt: Zum einen stand die neue menschenrechtliche Gefährdungslage im Zentrum, der Menschen aufgrund der Einschränkungen und der daraus folgenden Isolation im Rahmen der Pandemiebekämpfung ausgesetzt waren, wie die Volksanwaltschaft darlegt. Es wurde festgestellt, dass die Einschränkungen der Grundrechte teilweise unverhältnismäßig waren und ein vorsorglicher Infektionsschutz durch Freiheitsentziehungen, dies betraf besonders Alten- und Pflegeheime, unzulässig sei. Zum anderen war aber auch die Arbeit der Kommissionen selbst unmittelbar eingeschränkt, da diese während der Phase des ersten Lockdowns bis Juni 2020 keine Besuche von Einrichtungen durchführen konnten. Daher wurden andere Wege gewählt, um den Schutz von in ihrer Freiheit eingeschränkten Personen zu erreichen und unter anderem Telefoninterviews durchgeführt. Aufgrund der umfangreichen Einschränkungen wurde für das Jahr 2020 daher ein eigener Bericht zu den Auswirkungen von COVID-19 erstellt.

Insgesamt wurden im Berichtsjahr 448 Kontrollen durchgeführt, davon 431 in Einrichtungen und 17 bei Polizeieinsätzen. In Alten- und Pflegeheimen fanden die meisten Kontrollen statt (109), gefolgt von Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe (102) und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen (93). Bei 73% der Kontrollen wurden von den Kommissionen Mängel betreffend die menschenrechtliche Situation aufgezeigt.

Besonders diskutiert werden in dem Bericht Missstände, die auf systembedingte Defizite schließen lassen und oftmals im Zusammenhang mit den pandemiebedingten Maßnahmen standen. Schwerwiegenden Defizite (u.a. Personalmangel in Alten- und Pflegeheimen, mangelnde Ausstattung von Justizanstalten) bestanden aber auch schon vor der Pandemie und waren bereits Thema von Vorjahresberichten. Die Beanstandungen betrafen am häufigsten das Gesundheitswesen (17,7%), die Lebens- und Aufenthaltsbedingungen (16,4%) sowie freiheitsbeschränkende Maßnahmen und unzureichende Personalressourcen (13% bzw. 11%).

Warnung vor einem Systemkollaps im Pflegebereich

Insgesamt besuchten die Kommissionen im Berichtszeitraum 109 Kurz- und Langzeitpflegeeinrichtungen, davon 86 unangekündigt. Wichtig sei es, festzuhalten, dass es in Österreich während der Pandemie nicht zu sich selbst überlassenen BewohnerInnen und unversorgten Toten in Pflegeeinrichtungen kam, wie dies aus Spanien und Italien berichtet wurde, heißt es im Bericht. Dafür sei dringend eine höhere Wertschätzung und finanzielle Anerkennung für die im Pflegebereich Tätigen geboten, so die VA. Weiters weist sie, wie bereits im Vorjahresbericht, darauf hin, dass nach der Gesundheitskrise ein Systemkollaps im Pflegebereich drohe, sollte die Pflegereform weiter aufgeschoben werden. In dem Zusammenhang wird auch auf den Bericht des Rechnungshofes "Pflege in Österreich" verwiesen. Rückblickend auf das letzte pandemiegeprägte Jahr stellt die VA fest, dass Freiheitsrechte dem Infektionsschutz nicht bedingungslos untergeordnet werden dürften, wie das vor allem im Pflegebereich des Öfteren der Fall gewesen sei. Dem Bedürfnis der BewohnerInnen nach familiären Kontakten und persönlichen Begegnungen sei das entsprechende Gewicht zu geben. (Zu den genaueren Einschätzungen des NPM betreffend die Pandemie siehe Sonderbericht Teil 3 COVID-19. Parlamentskorrespondenz Nr. 660)

Krankenhäuser und Psychiatrien

Im Berichtszeitraum besuchten die Kommissionen der VA 28 Krankenanstalten, darunter 19 psychiatrische und 9 somatische Kliniken beziehungsweise Abteilungen. Auf diesen Bereich wird im Jahr 2021 ein Prüfschwerpunkt gelegt. Der professionelle Umgang mit Aggression und Gewalt sollten bei jeder psychiatrischen Arbeit im Fokus sein. Es wird in dem Bericht auch darauf verwiesen, dass immer mehr Schulungen zum Deeskalations- und Aggressionsmanagement abgehalten werden. Auch die standardisierte Erfassung von Aggressionsereignissen sei ein wichtiger Schritt zur Präventionsarbeit. Eine wichtige Forderung der VA ist, dass es keine Förderung der Langzeitunterbringung von chronisch psychisch kranken Menschen in Großeinrichtungen mehr geben soll, eine langfristige Hospitalisierung sei zu vermeiden. Vielmehr müssten geeignete Wohnformen und Betreuungsstrukturen geschaffen werden. Das bereits gesetzlich verankerte Register freiheitsbeschränkender Maßnahmen müsse bundesweit umgesetzt werden, um signifikante Unterschiede erkennen und präventiv reagieren zu können, so der NPM im Bericht.

Bereitschaft zur Veränderung im Bereich Kinder- und Jugendhilfe

Im Bereich Kinder- und Jugendhilfe fielen im Rahmen der 102 Besuche der VA große Qualitätsunterschiede auf. Das Interesse an der weiteren Implementierung der bereits erarbeiteten FICE-Qualitätsstandards sei aber groß und diese schreite voran. Positiv sei auch anzumerken, dass die Zahl der Fremdunterbringungen gesunken sei, speziell Wien werde dennoch ein Ausbau der ambulanten Betreuungseinrichtungen empfohlen. Betreffend die weiterführenden Hilfen für Volljährige spricht sich die VA dafür aus, einen Rechtsanspruch auf diese Hilfen gesetzlich zu verankern und das Höchstalter für deren Beanspruchung anzuheben. Kritisiert wird, dass es für den Fall von akuten Gefährdungen des Kindeswohls nicht genügend Plätze für eine Krisenunterbringung gebe und der jeweilige Personalstand den konkreten Anforderungen einer Gruppe entsprechen müsse.

Rechte von Menschen mit Behinderungen in Pandemie extrem eingeschränkt

Betreffend die Rechte von Menschen mit Behinderungen stellt die VA, die im Jahr 2020 93 Besuche in ebensolchen Einrichtungen absolvierte, fest, dass diese in ihren Freiheiten besonders eingeschränkt worden seien und es zahlreiche Individualbeschwerden gegeben habe. Daher habe die Volksanwaltschaft ihren Schwerpunkt auf den Umgang mit den Herausforderungen im Rahmen der Pandemie gelegt. Einen Fall der widmungswidrigen Verwendung von öffentlichen Mitteln deckte die Volksanwaltschaft nach einem Besuch einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung in Kärnten auf.

Situation in den Justizanstalten

Insgesamt führte die Volksanwaltschaft um ein Viertel weniger Besuche in Justizanstalten durch (29), da sie bewusst von Präsenzbesuchen Abstand nahm, um einerseits die Gefahr zu minimieren, das Virus in Einrichtungen zu tragen, andererseits aus Rücksicht auf die angespannte Personalsituation. Die pandemiebeschränkten Einschränkungen hatten zahlreiche Auswirkungen auf Gefangene und Bedienstete. Im Berichtsjahr 2020 wohnten die Kommissionen erstmals einer Großrazzia in einer Justizanstalt bei. Die VA weist darauf hin, dass Personen- und Haftraumdurchsuchungen empfindliche Eingriffe in das Grundrecht auf Privatsphäre darstellen und in jedem Fall verhältnismäßig sein müssen. Kritikpunkte, auf die schon in den Vorjahresberichten hingewiesen wurde, seien, dass Personendurchsuchungen mit körperlicher Entblößung noch immer nicht beanstandungsfrei durchgeführt würden und sich an der defizitären akutpsychiatrischen Versorgung von InsassInnen nichts geändert habe. Weitere Beispiele für Missstände in einzelnen Justizanstalten seien, dass es Frauen nicht problemlos ermöglicht würde, täglich zu duschen, dass Jugendliche gemeinsam mit erwachsenen Häftlingen untergebracht würden und es Hinweise auf willkürliche Vorschriften (z.B. Erheben des Insassen beim Eintreten eines Beamten in den Haftraum) gäbe. Diese Missstände wurden nach Intervention der VA in den meisten Fällen beendet.

Bauliche und hygienische Zustände in Polizeianhaltezentren defizitär

Im Rahmen der 16 Besuche in den Polizeianhaltezentren stellte die VA neben Mängeln der Anhaltebedingungen sowie des baulichen beziehungsweise hygienischen Zustandes Defizite in der Dokumentation von Anhaltungen fest. Die Empfehlungen des NPM betreffend die Standards in Polizeianhaltezentren seien nicht ausreichend umgesetzt worden, besonders, wenn bauliche Maßnahmen (z.B. betreffend die Errichtung von Wänden in Gemeinschaftsduschen oder -toiletten) notwendig wären. Auch beim Thema Tischbesuche wurden die dahin gehenden Empfehlungen seitens des BMI nicht umgesetzt. Die Realisierung einer generellen Möglichkeit zur Videotelefonie für Häftlinge, wie sie der NPM fordert, habe das BMI aufgrund rechtlicher Bedenken abgelehnt.

Die Empfehlungen aus dem Tätigkeitsbericht 2018 – aufgrund des Prüfschwerpunktes zum Thema Brandschutz – brachten zahlreiche Verbesserungen, nichtsdestotrotz empfiehlt die Volksanwaltschaft im Rahmen des NPM dem BMI die Erarbeitung einer bundesweit einheitlichen Gesamtstrategie und das Erlassen einheitlicher Vorgaben. Der bereits festgestellte Personalmangel in den PAZ Hernalser Gürtel und Roßauer Lände bestehe weiterhin, im PAZ Roßauer Lände bedürfe es 50 zusätzlicher Bediensteter, um den ordnungsgemäßen Betrieb aufrechtzuerhalten.

Neuer Prüfschwerpunkt in Polizeiinspektionen geplant

Insgesamt 50 Besuche führte die VA im Berichtszeitraum in Polizeiinspektionen (PI) durch. Im Fokus standen dabei die Dokumentation von freiheitsentziehenden Maßnahmen sowie die bauliche Ausstattung der Dienststellen. Nach den letztjährigen Schwerpunkten Brandschutz und Bereitstellung von Kontaktmöglichkeiten für Angehaltene und deren grundsätzlich positiver Beurteilung beschloss der NPM für das Jahr 2021 die Schwerpunkte ordnungsgemäße Dokumentation von Anhaltungen im Verwahrungsbuch, da auch in diesem Bericht wieder zahlreiche Dokumentationsmängel festgestellt wurden. Zweiter neuer Schwerpunkt werde das Thema Barrierefreiheit aller PI in Österreich – eine Forderung, die nicht schnell umzusetzen sei, aber bereits seit 2015 (mit einer Fristerstreckung bis 2019) umgesetzt sein sollte, so die VA. Negativ hebt der Bericht die unzureichende personelle Ausstattung, die noch nicht optimale Inanspruchnahme von Supervision für Exekutivbedienstete und die fehlende Vertraulichkeit bei (polizei)amtsärztlichen Untersuchungen hervor. Positive Wahrnehmungen betreffen neben Initiativen in einzelnen PI die vorbildliche Kooperationsbereitschaft sowie das harmonische Betriebsklima.

Beobachtungen von Zwangsakten mehrheitlich positiv

Zum Bereich der Zwangsakte hält der Bericht fest, dass die Kommissionen insgesamt 17 Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt beobachteten, darunter eine Abschiebung sowie 16 Demonstrationen, Fußballspiele, Razzien, Veranstaltungen sowie Grundversorgungskontrollen. Die Mehrzahl der Beobachtungen sei positiv verlaufen, besonders die Einsätze bei Demonstrationen werden hervorgehoben. Im Rahmen einer Gesetzesnovelle wurde es der Volksanwaltschaft nun ermöglicht, Gleisanlagen zu betreten, wenn dies "zur Ausübung ihrer Dienstobliegenheiten erforderlich ist".

Anregungen betreffend Fußballspiele enthält der Bericht dahin gehend, dass die Exekutive von einer Durchsuchungsanordnung bei Risikofußballspielen Gebrauch machen solle, um das Einbringen von Pyrotechnik durch Fans in das Stadion zu verhindern, auch sollten Transparente und Spruchbänder mit fragwürdigen Inhalten kritisch hinterfragt und geprüft werden.

Zum Themenbereich Abschiebungen wird im Bericht angemerkt, dass die Bereiche Rechtsberatung und Rückkehrberatung klar voneinander getrennt und die unterschiedlichen Rollen für die Betroffenen klar erkennbar sein müssten (dies umso mehr, da der Verein Menschenrechte Österreich sowohl Rechtsberatungen als auch Rückkehrberatungen durchführe). Weiters müssten Gutachten über die Flugtauglichkeit auch alle relevanten gesundheitlichen Informationen enthalten, der entsprechende Informationsfluss zwischen den Behörden müsse gegeben sein. Informationen über die Verweigerung einer freiwilligen Ausreise sollen den Betroffenen vor einer zwangsweisen Abschiebung übermittelt werden. (Schluss) mag