Bundesrat Stenographisches Protokoll 639. Sitzung / Seite 72

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zum Ausdruck kommt und sich wiederum zwangsläufig in einem korrespondierenden Rechtschutzdefizit des rechtsuchenden Bürgers niederschlägt.

Es versteht sich doch von selbst, daß eine überlange Erledigungsdauer zuletzt auch die materielle Gerechtigkeit verletzt. Zumindest trägt die zu spät kommende Entscheidung, ungeachtet ihrer sachlichen Richtigkeit, dem aktuellen Leben in seiner fortschreitenden Dynamik nicht mehr Rechnung.

Den Verfassern der vorliegenden Tätigkeitsberichte war der Ernst der Lage voll bewußt, der zunehmend in eine Krise des Rechtsstaates und seiner Legitimation einmünden kann und wird.

Die in Gesetzgebung und Verwaltung verantwortlichen Entscheidungsträger, ressortmäßig an erster Stelle der Bundeskanzler, waren dessen ungeachtet bis heute nicht imstande oder nicht willens, diese eminente Gefahr für den Rechtsstaat abzuwenden, das heißt, die untragbaren Rahmenbedingungen der Höchstgerichte soweit zu verbessern, daß deren Funktionsfähigkeit wiederhergestellt wird. Da diese Tätigkeitsberichte – und nicht erst die für das Jahr 1996 vorgelegten – seit etlichen Jahren geradezu als Alarmsignal zu werten sind, als Appell an die politisch Verantwortlichen, die dringend gebotene Abhilfe zu schaffen, und der Ruf bis heute ungehört verhallt ist, werden wir sie nicht zur Kenntnis nehmen.

Das bedeutet keinerlei Kritik an den Verfassern der Berichte, sondern es ist dies vielmehr der einzige uns mögliche Schritt, um auf die Unhaltbarkeit der Lage aufmerksam zu machen und eben dadurch die Höchstgerichte und ihre Sorgen ernstzunehmen.

Ich wende mich nunmehr den Berichten im einzelnen zu. Lassen Sie mich mit jenem des Verfassungsgerichtshofes beginnen.

Im Berichtsjahr wurden an den Verfassungsgerichtshof 4 772 neue Fälle sowie eine 11 122 Beschwerden umfassende Serie zur Mindestkörperschaftsteuer herangetragen. Insofern handelte es sich um die größte Belastung, der der Gerichtshof seit seinem Bestehen ausgesetzt war. 4 714 Fälle aus früheren Jahren und dem Geschäftsjahr 1996 selbst konnten im gleichen Zeitraum erledigt werden. Zum Ende des Berichtsjahres ergab sich ein Stand von insgesamt 13 182 offenen Fällen.

Gewiß läßt sich dieser an sich vernichtende Befund unter Hinweis auf die soeben erwähnten Parallelbeschwerden in Sachen Mindestkörperschaftsteuer deutlich relativieren. Das vermag aber in keiner Weise zu beruhigen, denn auch Rückstände von über 2 000 echten Fällen, die teilweise mehrere Jahre zurückreichen, lassen sich unter den gegebenen Umständen nicht aufarbeiten, sind doch 1996 mehr neue Beschwerden angefallen, als alte erledigt werden konnten.

Die zunächst acht und ab April neun ständigen Referenten bereiteten im Jahresdurchschnitt je rund 523 Fälle vor. Das sind – man stelle sich das vor! – zirka 10 Fälle pro Woche. Die fünf ständigen Referenten, die überwiegend mit Fällen aus dem Fremdenrecht im weiteren Sinne befaßt waren, waren sogar noch erheblich stärker belastet. Zugleich liegt in diesen 523 Fällen pro Jahr ohnehin schon eine erhebliche Steigerung der Arbeitseffizienz der Referenten, vergleicht man sie mit der Zahl von 238 bearbeiteten Fällen noch im Jahre 1987. Nach meiner Überzeugung ist damit die Entscheidungskapazität aller Referenten und damit auch des gesamten Gerichtshofs an ihre Grenzen gelangt.

Wäre eine entsprechend Vermehrung der Richterplanstellen ein gangbarer Ausweg? – Ich bezweifle das entschieden, und das nicht etwa primär mangels budgetärer Bedeckbarkeit. Meines Erachtens würde damit nämlich das strukturelle Problem der Überlastung einer Institution, die an ihre Kapazitätsgrenzen gestoßen ist, nicht wirklich gelöst. Dabei vernachlässige ich noch den internationalen Vergleich, in dem Österreichs Höchstgerichte – gemessen an der Bevölkerungszahl – ohnehin die meisten Richterstellen aufweist, ebenso lasse ich auch die Frage außer acht, ob ein kleines Land tatsächlich über eine so große Zahl von Spitzenjuristen und zugleich Persönlichkeiten verfügt, die das Anforderungsprofil von Höchstrichtern erfüllen.


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