Bundesrat Stenographisches Protokoll 639. Sitzung / Seite 76

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Dergleichen spricht folgendes Resümee für sich: Der Verwaltungsgerichtshof wäre bei derzeitigem Personalstand auch ohne einen einzigen neuen Beschwerdefall mit der Aufarbeitung der derzeit unerledigten Beschwerdefälle rund drei Jahre beschäftigt. Zudem beträgt die Arbeitsbelastung der Richter des Verwaltungsgerichtshofes seit Jahren das Doppelte, mittlerweile bereits das Drei- bis Vierfache des international üblichen Ausmaßes, denn der Neuanfall hat sich gegenüber der Mitte der achtziger Jahre mehr als verdreifacht, während die Zahl der Berichter im gleichen Zeitraum nur um 20 Prozent vermehrt worden ist. Die individuelle Belastung der Richter des Gerichtshofes beträgt heute bereits das Vierfache jener der beim deutschen Bundesverwaltungsgericht oder Bundesfinanzhof Tätigen.

Bei der Durchschnittsleistung der letzten zehn Jahre von 120 Akten pro Jahr hätte der Gerichtshof, um 1996 rückstandsfrei zu arbeiten, über 106 Hofräte – statt in Wirklichkeit 48 – und die entsprechende Zahl von Senatspräsidenten sowie das entsprechende nichtrichterliche Personal verfügen müssen. Seit 1995 fallen um zirka 30 Prozent mehr Akten an, als erledigt werden können, sodaß jährlich eine Menge in der Größenordnung eines früher üblichen Jahresanfalls in die Zahl der unerledigten Fälle eingeht. So sind im ersten Quartal des Jahres 1997 pro Monat um 250 Akten mehr eingelangt, als erledigt werden konnten. Nach einer linearen Hochrechnung würden bei Fortdauer dieser Tendenz Ende 1998 bereits 20 000 Beschwerden anhängig sein.

Gewiß ist einzuräumen, daß im Berichtsjahr 60,3 Prozent des Neuanfalls dem Fremdenrecht im weitesten Sinne zuzurechnen waren. Der inzwischen geschaffene Bundesasylsenat wird in diesem Bereich zweifellos eine gewisse Filterfunktion erfüllen, die den Verwaltungsgerichtshof spürbar entlasten kann. Dennoch weist jener Senat des Verwaltungsgerichtshofes, dem die Beschwerdefälle zum Aufenthaltsgesetz allein zugewiesen worden sind, um den Zusammenbruch der übrigen Senate zu verhindern, bereits einen Rückstand von 4 100 Akten auf. Die Bearbeitung würde zirka drei Jahre dauern, wenn der betreffende Senat von jedem Neuanfall freigestellt würde.

Aber auch in bezug auf den Gerichtshof insgesamt steht es nicht besser. Selbst unter der optimistischen Annahme, daß nach einer Reform jedes Jahr 3 000 neue Fälle und 2 000 Altfälle erledigt werden könnten, bedürfte der derzeitige Rückstand bereits einer Aufarbeitungszeit von sieben Jahren. Bei einer erst Anfang 1999 einsetzenden Reform würde sich dieser Zeitraum auf zehn Jahre verlängern.

Wie bereits ausgeführt, kann die Abhilfe – das heißt, die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Verwaltungsgerichtshofs – nicht mittels einer ohnehin nicht finanzierbaren schrankenlosen Vermehrung der richterlichen Planstellen, sondern nur durch eine drastische Verringerung des Geschäftsanfalls erreicht werden. Andernfalls riskiert die Republik das Eintreten eines Stillstands der Rechtspflege. Von der Rückwirkung eines solchen rechtsstaatlich unhaltbaren Zustandes auf die Motivation der Richter, die Qualität der Entscheidungen und auf die durch die faktische Rechtsschutzverweigerung bedingten Legitimationsverluste des Staates aus der Sicht des Bürgers will ich gar nicht erst reden.

Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich das bedrückende Faktenmaterial beider Tätigkeitsberichte und die daraus abzuleitenden Schlußfolgerungen folgendermaßen zusammenfassen:

Die permanente Überlastung der beiden Höchstgerichte des öffentlichen Rechts, die bereits notorisch und sowohl für die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaates als auch für das rechtsuchende Publikum zur elementaren Frage geworden ist, wird in den letzten Jahren in jedem Tätigkeitsbericht, und zwar von Mal zu Mal deutlicher, drängender, ja fast schon in dramatischer Form beklagt.

Die Regierung und die sie tragende parlamentarische Mehrheit bleiben davon offensichtlich unberührt, lassen sie doch keine ernsthafte Anstrengung erkennen, diese drohende Gefahr für den schleichenden Zerfall des Rechtsstaates abzuwenden – eine Gefahr, die aus dem faktischen Abbau der Kontrollfunktion resultiert, die unsere Höchstgerichte aufgrund ihrer völlig unzulänglichen Ausstattung und ihrer untragbaren Arbeitsbelastung nicht mehr ausreichend garantieren können.


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