Bundesrat Stenographisches Protokoll 639. Sitzung / Seite 142

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und einem Mangel an bestimmten gesellschaftlichen Standards vorliegt. Diese Definition ist deshalb so wichtig, weil die Zahl von armen Menschen sehr stark von der verwendeten Zählmethode abhängt.

Es ist zunächst zwischen Armutsgefährdung und tatsächlicher Armut zu unterscheiden. Armutsgefährdung liegt bereits vor, wenn die Hälfte des durchschnittlichen österreichischen Pro-Kopf-Einkommens unterschritten wird. Laut Haushaltspanel, einer Studie, die auf zirka 3 400 Haushaltsfragebögen basiert, sind zwischen 11 und 14 Prozent der Bevölkerung in Österreich armutsgefährdet. Kollege Schaufler hat diese Zahl bereits genannt.

Die Einkommenshöhe allein ergibt jedoch ein unzureichendes Bild der tatsächlichen Lebenssituation. Deshalb muß – um von Armut sprechen zu können – mindestens noch eine der folgenden Bedingungen zusätzlich zutreffen: Die Betroffenen müssen in einer Substandardwohnung oder in einer überbelegten Wohnung wohnen, große finanzielle Nöte beim Heizen, bei der Beschaffung von Nahrung und Bekleidung und Rückstände bei der Zahlung von Mieten und Krediten haben. – Unter Berücksichtigung dieser Umstände beträgt die Armutsquote in Österreich 5 Prozent, in absoluten Zahlen ausgedrückt sind das 410 000 Menschen.

Das subjektive Gefühl, arm zu sein, ist also nicht unbedingt mit der klar definierten und nachvollziehbaren tatsächlichen Armut gleichzusetzen. Das Gefühl, zu wenig zu verdienen und zu viele Lasten tragen zu müssen – seien sie nun aufgrund eigener Entscheidungen oder durch nicht beeinflußbare Umstände entstanden –, also das Gefühl, zu wenig zu besitzen, oder überhaupt das Gefühl mangelnder Sicherheit, ist allerdings zutiefst verständlich und zutiefst menschlich.

Aus diesem urmenschlichen Problem beziehen natürlich Zukunftsängste und generelle Unzufriedenheit überhaupt ihre Nahrung. Jeder einzelne ist gezwungen, damit umzugehen und einen Weg für sich zu finden. Unverantwortlich und für die Betroffenen nicht zielführend ist es allerdings, wenn man mit diesen Gefühlen der Menschen spielt und latente Ängste schürt.

Unser Sozialsystem ist stark erwerbsorientiert aufgebaut. Das heißt, wer Arbeit hat oder aus der Erwerbstätigkeit ausscheidet, ist sozial abgesichert. Die Sicherung eines Einkommens, das ein menschenwürdiges Dasein gewährleistet und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglicht, gehört zu den Primärfunktionen der Sozialpolitik. Arbeit zu haben bedeutet aber noch nicht, daß man dafür ausreichend bezahlt wird. Es gibt immer noch vollzeitbeschäftigte Menschen, deren Lohn kaum ausreicht, daß sie ihren unmittelbaren Lebensunterhalt selbständig bestreiten können. Und wenn von einer solchen Situation noch dazu eine Alleinerzieherin oder ein Alleinverdiener in einer kinderreichen Familie davon betroffen ist, dann wird leicht verständlich, daß es zur Armutsgefährdung kommt.

Ich muß sagen: Sogenannte Deregulierungsvorschläge verschleiern mit ihren Lockmotiven wie "Individualismus", "Liberalismus", "persönliche Entscheidungsfreiheit" die dahinterliegende Absicht der Schwächung der Position des einzelnen Arbeitnehmers. Die Fluchtversuche aus dem Arbeitsrecht in Form von Werkverträgen, geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen und so weiter sind ein eindeutiger Beleg dafür.

Dem ist Solidarität im Sozialsystem entgegenzusetzen. "Solidarität" bedeutet in diesem Falle, daß sozial Schwächere unterstützt werden, um ihre materiellen Bedürfnisse befriedigen zu können.

Die Diskussionen über die Inanspruchnahme von Sozialleistungen waren stets begleitet von Einwänden, daß ein Teil der Bezieher das Sozialsystem zu weit ausnütze, um Leistungen zu bekommen, die ihnen eigentlich nicht zustehen. Der Mißbrauch von Sozialleistungen ist eindeutig abzulehnen. Von konservativer Seite wird aber immer wieder versucht, den Anspruch auf Sozialleistungen mit der Problematik der Finanzierung zu verknüpfen und somit eine Begründung für Abbaumaßnahmen zu finden.

Ich möchte ganz klar festhalten, daß die Frage, wer für die Finanzierung der Leistungen aufkommt, nicht nur für die betroffenen Zahler und Leistungsempfänger relevant ist, sondern auch


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