Bundesrat Stenographisches Protokoll 639. Sitzung / Seite 144

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Lassen Sie mich abschließend sagen: Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit müssen die wesentlichen Prinzipien der Sozialpolitik bleiben! – Danke. (Beifall bei der SPÖ.)

20.22

Vizepräsidentin Anna Elisabeth Haselbach: Zu Wort gemeldet ist Frau Bundesrätin Crepaz. – Bitte.

20.22

Bundesrätin Irene Crepaz (SPÖ, Tirol): Frau Präsidentin! Frau Bundesministerin! Geschätzte Damen und Herren! Der vorliegende Sozialbericht spiegelt einige unerfreuliche Tendenzen in bezug auf die Arbeitsmarktlage – wie wir heute schon gehört haben –, im besonderen auf die Arbeitslosenrate, den Bestand an offenen Stellen, den Lehrstellenmarkt und die Zunahme an geringfügig Beschäftigten wider, und das vor dem Hintergrund einer guten Wirtschaftsentwicklung und einer deutlichen Verbesserung der internationalen Wettbewerbssituation Österreichs.

Fragwürdige Standortdebatten, Angst und Panikmache bewirken eine von Einzelinteressen motivierte Erzeugung von Pessimismus, der sachlich unbegründet ist. Dadurch wird das Wirtschaftsklima beeinträchtigt. Viele der Wünsche haben nichts mehr mit der realen Situation der Unternehmen zu tun, sondern werden geschickt dazu verwendet, berechtigte Anliegen der Arbeitnehmer zurückzudrängen. Kurz gesagt: Die Unternehmen haben überhaupt kein Interesse daran, positive Tendenzen in der Wirtschaftsentwicklung anzuerkennen, weil man natürlich mit dem Argument, daß man sich in einer schweren Wirtschaftskrise befinde, niedrige Löhne, Entlassungen und die Flucht aus dem Arbeits- und Sozialrecht rechtfertigen kann. Das oft vorgebrachte Argument, daß arbeitsplatzschaffende Investitionen aufgrund zu geringer Gewinne ausbleiben, ist nicht haltbar. Gewinne und Eigenkapitalausstattung befinden sich nach der Rezession von 1993 auf einem höheren Niveau als zu Zeiten der Vollbeschäftigung.

Wie wichtig die Sicherung der Erwerbsarbeit ist, wird sowohl im vorliegenden Sozialbericht als auch in der Studie über Arbeitsmarkt, Arbeitslosigkeit und Armut in Tirol, im sogenannten Armutsbericht, der in Tirol in den vergangenen Wochen ein großes mediales Echo ausgelöst hat, deutlich gemacht. Vieles, was der Sozialbericht 1996 aufzeigt, wird in dieser Studie bestätigt. Generell wird festgehalten, daß immer mehr Personen wegen der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt direkt auf Verarmungsprozesse zusteuern, die in der Folge nicht nur ihre eigenen, sondern auch die zukünftigen Lebenschancen aller Haushaltsmitglieder beeinträchtigen.

Die Armutsgefährdung steigt in Arbeitslosenhaushalten um ein Vielfaches. In Tirol war 1996 schon fast jede vierte Arbeitskraft von Arbeitslosigkeit betroffen. Das entspricht 66 297 Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen. Im selben Jahr kamen 11,6 Arbeitslose auf eine offene Stelle. Das ist der bisherige Höchststand seit 1948. Tiroler Arbeitslose waren im Vergleich zu den anderen Bundesländern am stärksten von Mehrfacharbeitslosigkeit betroffen, nämlich zu 42,8 Prozent. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist um 24,1 Prozent gestiegen. Insgesamt hat sich das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit über die Jahre enorm verschärft. 1996 gab es siebenmal soviel Langzeitarbeitslose wie 1980.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erwerbsarbeit ist in unserer Gesellschaft die dominante Einkommensquelle und kann durch Unterstützungsleistungen des Sozialstaates nur unzureichend ersetzt werden. Nach dem Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Armut zu fragen, ist somit eigentlich überflüssig.

Aber nicht nur Arbeitslosigkeit führt zur Armut. Das Wirtschaftssystem des ausgehenden 20. Jahrhunderts beginnt sich seiner sozialen Pflichten zu entledigen und produziert eine Armutspopulation, die in Erwerbsarbeit steht. Dieser Entwicklung der sogenannten "working poor" steht der Staat mit einer gewissen Hilflosigkeit gegenüber. Die arbeitende Bevölkerung gilt oder galt allein aufgrund der Tatsache, daß sie Erwerbsarbeit ausübt, per Definition nicht als arm. Eine arbeitende Armutspopulation ist im Sozialstaatskonzept nicht vorgesehen. Dementsprechend gibt es bis jetzt auch keine sozialstaatlichen Transfers für die "working poor".


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