Bundesrat Stenographisches Protokoll 720. Sitzung / Seite 101

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NS-Militärjustiz insbesondere der Wehrmachtsdeserteure im von der Bundes­regierung ausgerufenen „Gedenkjahr 2005“ (2307/J-BR/2005)

 


Vizepräsidentin Anna Elisabeth Haselbach: Wir gelangen nunmehr zur Verhandlung über die Dringliche Anfrage der Bundesräte Schennach, Professor Konecny, Kolle­ginnen und Kollegen an die Frau Bundesminister für Justiz.

Die Dringliche Anfrage ist inzwischen allen Mitgliedern des Bundesrates zugegangen, daher erübrigt sich eine Verlesung durch die Schriftführung.

Ich erteile Herrn Bundesrat Schennach als erstem Anfragesteller zur Begründung der Anfrage das Wort. – Bitte.

 


16.02.58

Bundesrat Stefan Schennach (Grüne, Wien): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Bundesministerin! Sehr geehrte Damen und Herren dieses Hauses! Dies ist keine alltägliche Anfrage, und sie ist symptomatisch dafür, wie uns die Aufarbeitung der Schrecknisse der Nazi-Herrschaft und des Dritten Reiches bis heute beschäftigt, verfolgt, wie bis heute vieles liegen geblieben ist und wie Unrecht dieser Zeit bis heute nachwirkt. Obwohl heuer ein Gedenkjahr ist – 60 Jahre Kriegsende, 50 Jahre Staats­vertrag –, wirkt Nazi-Unrecht in diesem Land noch immer. – Das ist einer der Gründe für diese Dringliche Anfrage.

Der zweite Grund dieser Dringlichen Anfrage ist, dass ein Mitglied dieses Hauses vor wenigen Wochen öffentlich festgehalten hat, dass durch eine generelle Rehabilitierung von Deserteuren die mutigen Angehörigen der deutschen Wehrmachtsjustiz in ihrer Ehre posthum besudelt würden.

Meine Damen und Herren! Wenige Zeilen weiter zu behaupten, dass die Volksgerichts­höfe vor und nach dem Krieg jedweder Rechtsprechung Hohn sprechen, wirft ein Schlaglicht auf das, was oben gemeint ist.

Der dritte Grund dieser Anfrage liegt in der Person der Justizministerin (ironische Heiterkeit des Bundesrates Dr. Böhm), die in der „Pressestunde“ des ORF, ohne nach­zudenken – es ist ihr einfach so herausgerutscht –, auf die Frage, ob Österreich nicht den Weg Deutschlands gehen und endlich den Deserteuren der Wehrmachts­armee Recht zukommen lassen wolle, mit der Aussage antwortete, selbst da mache es einen Unterschied, ob man desertiere, weil man zu feig sei, oder ob man desertiere, weil man gegen das Nazi-Regime sei. (Bundesrat Dr. Böhm: Vor dem Gesetz schon!)

Die Frau Bundesministerin wurde zweimal vom Leiter der Wiener Redaktion der „Salz­burger Nachrichten“ darauf aufmerksam gemacht, dass die Aussage, Deserteure wären zu feig, Betroffene kränke. Sie hat es trotz zweimaligem Hinweis nicht der Mühe Wert gefunden, sich in dieser Sendung für den Ausspruch, Deserteure seien zu feig, zu entschuldigen – sich 60 Jahre nach Kriegsende bei den wenigen heute noch lebenden Deserteuren für diesen Ausdruck „zu feig“ zu entschuldigen, meine Damen und Herren!

Frau Bundesministerin! Ich sage es Ihnen ehrlich: Es gibt auch einen vierten Grund, der vielleicht persönlich ist. Sie haben meinen Vater beleidigt, meinen hoch betagten Vater, auf den ich sehr stolz bin, weil er sich nach einer Woche der Bekämpfung der Partisanen durch Desertation der Deutschen Wehrmacht entzogen hat und von da an ein sehr schwieriges Leben führte.

Frau Bundesministerin! Reden wir einmal über die Militärjustiz und über die „Feigheit“: Bis Ende 1944 desertierten 300 000 Soldaten der Deutschen Wehrmacht. Kriegs­gerichte führten 2,5 Millionen Strafverfahren gegen Wehrmachtsangehörige durch. NS-Militärgerichte fällten zirka 50 000 Todesurteile; 30 000 bis 35 000 betrafen Wehr­machts­angehörige. 20 000 bis 30 000 Wehrmachtsangehörige wurden hingerichtet.


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