Bundesrat Stenographisches Protokoll 720. Sitzung / Seite 102

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75 Prozent der Todesurteile wurden wegen Fahnenflucht und „Wehrkraftzersetzung“ aus­gesprochen. 22 000 Fahnenflüchtige wurden zum Tode verurteilt; 15 000 dieser Urteile wurden vollstreckt.

Es gibt in Österreich Menschen, für die noch ein solches Todesurteil besteht, die noch leben und nicht rehabilitiert sind. 5 000 bis 6 000 der Todesurteile gegen Wehrmachts­angehörige wurden wegen „Wehrkraftzersetzung“ gefällt, mehr als die Hälfte davon wegen Selbstverstümmelung. – Auch Selbstverstümmelung bedeutete, sich dem mör­derischen Apparat einer Angriffsarmee zu entziehen. 5 000 bis 8 000 Soldaten wurden ohne Verfahren standrechtlich hingerichtet. – Das ist die Militär- und Blutjustiz des Dritten Reiches, von der jemand meint, dass deren Ehre und deren „mutige Angehörige“ nicht posthum durch eine Rehabilitierung der Deserteure besudelt werden dürfen!

Meine Damen und Herren! Warum kann einer jungen Justizministerin ohne Nach­denken das Wort „feig“ herausrutschen? – Weil über Jahrzehnte eine Organisation einen Mief über diese Republik verbreitet hat, der sich Österreichischer Kamerad­schaftsbund nennt (Bundesrat Dr. Böhm auf Bundesrat Bieringer deutend : Da sitzt der Präsident!) und in dem die Geschichte der „Pflichterfüllung“ und des „tapferen Soldaten“ hochgehalten wird.

Und diese Meinung, dieser Mief, der da jahrzehntelang verbreitet wurde, macht es ehrenhaft, bei einer fremden Armee zu kämpfen, und macht es unehrenhaft ... (Bundesrat Dr. Böhm: Freiwillig wahrscheinlich!) – Es geht nicht darum, Herr Professor Böhm! Wir alle wissen, dass Soldaten – Tausende und Millionen! – in den Kriegsdienst gezwungen wurden. (Bundesrat Dr. Böhm: Selbstverständlich!) Das wissen wir alle, aber es geht um die Bewertung: Wer ist ehrenhaft und wer ist unehrenhaft?

Wer bis zum Schluss die Pflicht erfüllt hat, ist ehrenhaft, und wer die Pflicht nicht erfüllt hat, ist unehrenhaft (Bundesrat Dr. Böhm: Nein!) und hat bis heute keine Pen­sions­ansprüche, während die Schergen eine Pension bekommen? – Das ist die Frage, die wir uns heute, 60 Jahre nach Kriegsende, zu stellen haben! (Beifall bei den Grünen und der SPÖ.)

Diese Organisation sagt: „Deserteure werden in jeder Armee bestraft (...).“ – Tatsache ist – und betrachten wir nur den Zeitraum des Zweiten Weltkrieges –: Deutsches Reich: 22 000 verhängte Todesurteile, 15 000 Hinrichtungen; die USA: 162 verhängte Todes­urteile, eine Hinrichtung; Großbritannien: null; Frankreich: 102 Hinrichtungen; Italien: 88 Hinrichtungen – aber nicht wegen Fahnenflucht! – Es geht hier um Fahnenflucht.

Das nächste Argument ist auch eines, das diese unsägliche Organisation jahrein, jahraus pädagogisch quasi unter die Haut und in die Gedankenwelt Österreichs pflanzt: „Viele sind ja nicht aus politischen Gründen desertiert, sondern weil sie feig waren oder bloß ihre Haut retten wollten (...).“ – Es heißt da auch: Deserteure, „Wehrkraft­zer­setzer“, Verweigerer waren ungeachtet ihrer politischen Motive „Verräter an der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“, und egal, aus welchem Grund jemand desertiert ist – aus Widerstand gegenüber dem nationalsozialistischen Regime, oder um sich dem zu entziehen –, es brauchte angesichts der hohen Strafen für diese Entscheidung zur Flucht oder Verweigerung meist mehr Mut als zum Gehorchen von Befehlen. (Beifall bei den Grünen und der SPÖ.)

Zum Argument, dass Deserteure ihr Vaterland beziehungsweise ihre Heimat verraten hätten: „Österreicher, die in der Deutschen Wehrmacht dienten“ – und dienen muss­ten, Herr Professor Böhm! –, „verteidigten nicht ihre Heimat, sondern nahmen an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg teil.“ (Bundesrat Dr. Böhm: Habe ich das behauptet?) – Nein, nur dass Sie es hören, denn Sie murmeln die ganze Zeit. (Bun­desrat Dr. Böhm: Ja, das ist auch ...!)

 


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