Bundesrat Stenographisches Protokoll 720. Sitzung / Seite 113

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schluss eine kleine Geschichte erzählen, wie man mit Menschen, die gelitten haben, auch umgehen kann. Ich habe diese Geschichte nicht gekannt; es ist keine Anekdote, die ich Ihnen erzähle, sondern es ist eine Geschichte, die den Akten der Historikerkom­mission entnommen ist.

Zwischen 1938 und 1945 haben Zehntausende die Staatsbürgerschaft des Deutschen Reiches verloren, weil sie ihnen entweder ausdrücklich aberkannt wurde oder weil sie sie unterwegs auf der Flucht irgendwo „verloren“ haben. Sie waren staatenlos, wenn sich nicht irgendjemand ihrer erbarmte und ihnen eine Staatsbürgerschaft antrug.

So wie im gegenständlichen Fall haben die Gesetzgeber der ersten Stunde der Zwei­ten Republik eine pauschale, aber nicht sehr durchdachte Regelung getroffen. Sie haben nämlich in einem Gesetz die Rechtsfiktion aufgestellt, dass das alte öster­reichisch Staatsbürgerschaftsgesetz bis zum 27. April 1945 weiter gegolten hat. Das hat tatsächlich allen jenen geholfen, die ausdrücklich ausgebürgert worden waren. All jenen, die auf der Flucht eine fremde Staatsbürgerschaft angenommen hatten, hat es je­doch nicht geholfen, weil im alten wie im jetzigen Staatsbürgerschaftsgesetz die Annahme einer fremden Staatsbürgerschaft den Verlust der österreichischen auto­matisch nach sich zieht – außer die Bundesregierung beschließt etwas anderes, aber die Bundesregierung konnte zwischen 1938 und 1945 mangels Existenz keine Be­schlüsse dieser Art fassen. Das hat also große Ungerechtigkeiten erzeugt. Es wurde dieses Gesetz sehr viel später so novelliert, dass auch jener Personenkreis auf Antrag die österreichische Staatsbürgerschaft zurückerhalten konnte.

Unter jenen, die wegen Annahme einer fremden Staatsbürgerschaft – es war in diesem Fall die britische – die österreichische eingebüßt hatten, war ein „unbedeutender“ Mann namens Oskar Kokoschka. Er fand, dass es eine Zumutung für ihn war, der wahrlich nicht freiwillig aus Österreich weggegangen war, dass er einen Antrag stellen sollte, um wieder die österreichische Staatsbürgerschaft zu bekommen; er habe sie ja nicht hergegeben, man habe ihn vertrieben. Aber das war vom Gesetz nicht gedeckt.

Daraufhin wurde – apropos Sozialdemokraten – das Gesetz noch einmal novelliert. Es wurde nunmehr ohne Antrag das Recht auf die österreichisch Staatsbürgerschaft all jenen zuerkannt, die einen Wohnsitz in Österreich haben. Oskar Kokoschka freilich hatte den Wohnsitz Genf. Aber am Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes traf im Wie­ner Rathaus ein Brief ein, geschrieben vom Bürger Bruno Kreisky, der dem zustän­digen Stadtrat Heller mitteilte, dass mit heutigem Datum Herr Oskar Kokoschka, Geburtsdatum, in Wien 19, Armbrustergasse, einen Wohnsitz eingerichtet hatte. Damit war die Rückgabe der Staatsbürgerschaft kein Problem mehr.

Sehen Sie, das ist Empathie! Das heißt Mitfühlen mit den Menschen, das heißt auch Mitfühlen mit dem ganz konkreten Schicksal. Frau Bundesminister, das ist es, was Ihnen offenbar fehlt: Empathie, Mitfühlen mit diesen Menschen. Sie sind kein juridi­sches Problem, sie sind kein Problem von Paragraphen – das ist ein Problem von Schicksalen! (Beifall bei der SPÖ und den Grünen.)

17.05


Vizepräsident Jürgen Weiss: Nächster Redner ist Herr Bundesrat Mayer. Ich erteile ihm das Wort.

 


17.05.57

Bundesrat Edgar Mayer (ÖVP, Vorarlberg): Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Bun­desministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Dringliche Anfrage befasst sich mit einem sicher sehr sensiblen Thema und zeugt davon, dass wir offensichtlich die schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges oder der Kriege und ihrer Folgen noch immer nicht aufgearbeitet haben.

 


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