Nationalrat, XX.GP Stenographisches Protokoll 125. Sitzung / Seite 102

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Meine Damen und Herren! Wir alle wissen – und in vielen Gesprächen, die ich mit einzelnen von Ihnen geführt habe, ist das auch deutlich bestätigt worden –, daß zwischen unserer geschriebenen Verfassung und der Realverfassung eine Kluft besteht, die sich in der Tendenz öffnet und bedauerlicherweise nicht schließt. Ich nehme nicht für mich in Anspruch, ein Verfassungsrechtler oder Verfassungsexperte zu sein und sehe das daher vielleicht etwas vereinfacht. Ich glaube aber doch, daß wir darüber nachdenken sollten, ob wir eine solche Kluft zwischen der geschriebenen Verfassung und unserer Realverfassung wünschen, und daß wir weiters darüber nachdenken sollten, woran sich diese Kluft festmachen läßt.

Ist es vielleicht unser Listenwahlrecht, das wir mehr oder weniger unkritisch hinnehmen? Ist es vielleicht der Mangel an Elementen eines Persönlichkeitswahlrechtes, das wir uns wünschen und das diesen Zustand verbessern könnte? Gibt es eine Diskrepanz zwischen dem freien Mandat und dem Klubzwang? Besteht eine Diskrepanz zwischen dem, was unsere Verfassung gerne möchte und was insbesondere auf dem Gebiete von Minderheitenrechten in diesem Haus geübt wird?

Ich bin der Ansicht, daß es hier zumindest einen Bedarf gibt, darüber nachzudenken und auch eine offene und vorurteilsfreie Diskussion zu eröffnen. Glauben Sie mir: Als ich hier vor knapp vier Jahren angelobt wurde, bin ich nicht nur als überzeugter Demokrat in den Nationalrat gekommen, sondern auch als Anhänger eines von Parteien getragenen Parlamentarismus. Ich muß mir selbst in Erinnerung rufen, daß nach den ersten Malen, als all das noch neu war und die Neugierde sowie das Lernen im Vordergrund standen, bald das Gefühl des ungläubigen Staunens Platz gegriffen hat: ungläubiges Staunen darüber, wie anders dieses Bild eines von Parteien getragenen Parlamentarismus und des Hohen Hauses in Wirklichkeit ausschaut.

Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, wie Sie das empfinden – oder ob Sie sich schon derart daran gewöhnt haben, daß Sie nicht mehr darüber nachdenken wollen. Vielleicht empfinden Sie es auch gar nicht mehr als Defizit, aber denken Sie an das äußere Bild, an das oftmals überwiegende – ich würde es so nennen – Regelbild, das dieses Haus liefert. Wodurch wird es bestimmt? – Durch leere Ränge, durch zeitungslesende Mandatare, durch Zusammenrotten in kleinen Gruppen, durch Langeweile.

Meine Damen und Herren! Wir alle sollten uns ins Bewußtsein rücken, daß wir damit sowohl unserer geschriebenen als auch unserer Realverfassung schaden. Das Bild, das wir nach außen transportieren, ist ein erbärmliches. Ich denke mir oft, es ist gut, daß die Menschen, die uns gewählt, die uns hierher entsandt haben, dieses Bild nicht 1 : 1 serviert bekommen, daß sie das nicht wissen. Sie würden mit Recht harsche Kritik an unserem Verhalten üben.

Neben diesem Erscheinungsbild nach außen meine ich auch, daß wir große Defizite innerhalb unserer Mechanismen haben: Wo bleibt die Diskussion? Wo bleibt die Auseinandersetzung hier im Plenum oder in den Ausschüssen? Wo bleibt der Wettbewerb der Argumente? Wo bleibt denn die Bereitschaft, sich mit Ideen anderer tatsächlich zu beschäftigen und aus dem Argumentationsverlauf das Beste für ein Gesetz, für eine Regelung abzuleiten? – Das, meine Damen und Herren, ist ein großes Defizit. (Beifall beim Liberalen Forum und bei den Grünen.)

Ich bin der Ansicht, daß, wenn wir dieses Verhalten beibehalten, das ein weiterer Punkt ist, bei dem wir sowohl der geschriebenen als auch der Realverfassung Schaden zufügen.

Ich weiß: Immer wenn wir innerhalb unseres Klubs – und ich mit meiner geschätzten Frau Chefin – diese Debatte führen, dann kommt das Argument: Das könnte mißbraucht werden, und das ist nicht demokratiepuristisch. – Es wird alles von einem sehr idealen Standpunkt aus betrachtet. Ich frage Sie daher – so wie ich mich selbst oft gefragt habe – folgendes: Womit und wodurch schaden wir der Demokratie mehr: indem wir diese Zustände zulassen, uns mit ihnen abfinden oder indem wir wirklich darüber nachdenken, wie wir sie ändern könnten?

Meine Damen und Herren! Ich glaube, es wird immer einzelne – oder bedauerlicherweise ganze Gruppen von Mitgliedern dieses Hohen Hauses – geben, die die geschriebene Verfassung und die Realverfassung so interpretieren, wie sie es gerne wollen, die glauben, daß es rechtens ist,


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