Nationalrat, XXII.GPStenographisches Protokoll76. Sitzung / Seite 193

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20.54

Abgeordneter Mag. Dr. Alfred Brader (ÖVP): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! In Österreich leben in etwa 10 000 Menschen mit angeborener oder erworbener Taubheit, und viele von ihnen können Lautsprache nicht verstehen und sich in der Lautsprache nicht verständigen. Frau Kollegin Haidlmayr hat es schon gesagt: Diese Menschen haben bei der Bewältigung ihres Alltags große Probleme, die sehr oft auch auf diese mangelnden Kommunikationsmöglichkeiten zurückgeführt wer­den können. So sind zum Beispiel gehörlos Geborene oder vor dem Spracherwerb ertaubte Kinder auf Grund der fehlenden Höreindrücke in ihrer Lautsprachentwicklung und damit in ihrer sozialen und kognitiven Entwicklung gefährdet.

Um dieses ganze Problem in Kürze zu umreißen, möchte ich Helen Keller zitieren, die einmal gesagt hat:

„Blindheit trennt von Dingen und Taubheit von Menschen.“

Ich glaube, das Zitat dieser Frau, die im Kleinkindalter ertaubt und erblindet war und trotzdem ein Universitätsstudium abgeschlossen hat, trifft meines Erachtens ganz ge­nau den Kern des Problems.

Es gilt ganz einfach, diese Trennung zu überwinden, Mittel und Wege aus dieser Isola­tion zu suchen beziehungsweise Isolation erst gar nicht entstehen zu lassen. Wie durch Gehörlosigkeit bedingte Entwicklungsgefährdungen verhindert werden können, darüber wurde und wird viel diskutiert. Heute Vormittag hat Kollegin Heinisch-Hosek schon eine möglichst frühe apparative Versorgung und eine intensive logopädische Frühförderung angesprochen, damit eine halbwegs normale Sprachentwicklung mög­lich wird. – Das ist ein Weg.

Ein anderer Weg ist die Einbettung gehörloser Kinder in ein Gebärdensprache spre­chendes Umfeld. Die Gebärdensprache ist dank der hervorragenden Arbeit österrei­chischer Linguisten an der Grazer Universität lehr- und lernbar geworden, und damit ist auch die Basis für eine umfassende Verwendung der Gebärdensprache gelegt worden.

Unsere Aufgabe – das hat meine Vorrednerin auch gesagt – ist es nun, das Recht auf die Verwendung der Gebärdensprache zu verankern. Aus diesem Grunde haben wir auch einen entsprechenden Entschließungsantrag eingebracht und glauben, damit die Basis für notwendige Reformen im Bereich der Frühförderung, der schulischen und beruflichen Ausbildung und in vielen anderen Lebensbereichen schaffen zu können.

Diese Reformen werden – und das traue ich mich, heute schon zu sagen – viele Dis­kussionen hervorrufen. Ohne diese vorwegzunehmen, möchte ich aber jetzt schon vor einigen Missverständnissen warnen. Ein Irrtum, der weit verbreitet ist, ist der, dass man meint, gebärdensprachliche Förderung und lautsprachliche Förderung schließen einander aus. Diese Ansicht ist falsch und überaltert. Wie wir in unserer Enquete fest­gestellt haben, bestätigen neuropsychologische und linguistische Untersuchungen, dass sich beide Systeme wechselseitig unterstützen. Sprechen und Bewegung gehö­ren zusammen, und diesen Umstand kann man zum Wohle des Kindes hervorragend ausnützen. Das heißt, das Prinzip einer einseitigen Ausrichtung der Förderung ist falsch, sondern es gilt das Prinzip der Bilingualität.

Auf diese Weise kann fast jedes gehörlose Kind auch ein wenig lautsprachliche Kom­petenz erwerben, und die ist für soziale Integration immer notwendig und wichtig. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass Gebärdensprache primär in der Gemeinschaft der Ge­hörlosen verwendet und gepflegt wird, von Dolmetschern Gott sei Dank zur Unter­stützung angeboten wird, aber sonst immer auf die engste Umgebung der betroffenen Personen beschränkt bleibt. Das wird, so fürchte ich, auch so bleiben, und darum möchte ich dem Prinzip der Bilingualität huldigen.

 


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