Nationalrat, XXII.GP Stenographisches Protokoll 96. Sitzung / Seite 48

Home Seite 1 Vorherige Seite Nächste Seite

11.25.21

Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel: Hohes Haus! Ich darf erklären, warum diese neue Europäische Verfassung so wichtig ist. Die alte Verfassung ist einfach nicht mehr zeitgemäß für eine Union, die 25 Mitgliedsländer umfasst. Die Verfahren sind extrem kompliziert, es gibt, soweit ich weiß, 27 verschiedene Mitbestimmungsverfahren zwi­schen dem Rat, dem Parlament und allen anderen Institutionen. Es gibt immer noch die völlig undurchschaubare Drei-Säulen-Struktur: Die erste Säule ist das Gemein­schaftsrecht, die zweite Säule sind die reinen Maßnahmen, etwa in der Außenpolitik, die zwischen den Regierungen, sozusagen zwischenstaatlich ausgehandelt werden, und die dritte Säule ist eine Art Mischform. Es gibt unzureichende Antworten auf gera­de jene Fragen, die die europäischen Bürger – auch die österreichischen – besonders bewegen, wie etwa Fragen betreffend Wirtschaft, Arbeitsplätze oder auch innere Sicherheit. Insgesamt bietet die alte Verfassung sehr viele Blockademöglichkeiten. So kann durch das Prinzip der Einstimmigkeit praktisch einer alles blockieren, wenn ihm irgendetwas nicht passt, und das ist, glaube ich, in einer Union, die weiterkommen will, nicht sinnvoll. Daher ist eine neue Verfassung ausgearbeitet worden.

Diese Verfassung ist durch einen Konvent vorbereitet worden, von über 100 Mitarbei­tern, und Giscard d’Estaing hat dann einen hervorragenden Entwurf vorgelegt, der aus österreichischer Sicht zu 95 Prozent akzeptabel gewesen ist, und dieser Entwurf konnte in einigen Punkten auch noch verbessert werden.

Ich möchte allen Konventmitgliedern – es sind einige hier –, insbesondere Farnleitner, Einem, Bösch und Voggenhuber, ausdrücklich danken. Mein Dank gilt aber auch allen anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die in den Arbeitskreisen mitgewirkt haben. Sie alle haben eine gute Arbeit für Europa und für Österreich geleistet. (Beifall bei der ÖVP und bei Abgeordneten der Freiheitlichen sowie Beifall bei den Grünen.)

Man muss auch dazusagen: Mit über 100 Mitgliedern kann man nicht wirklich alles basisdemokratisch abstimmen und im Konsens machen. (Abg. Mandak: O ja!) Nein! Der ganze Teil drei ist im Konventsplenum überhaupt nie diskutiert worden – um hier mit einer Legende aufzuräumen. Daher war es sehr sinnvoll und notwendig, dass dann die wirklich verfassungsrechtlich Befugten, nämlich der Rat, die Regierungskonferenz und das Europäische Parlament, sehr eng zusammengearbeitet haben, und wir haben jetzt, die Europäische Union gemeinsam mit den nationalen Parlamenten, einen Ent­wurf, der meiner Meinung nach wirklich tragfähig ist.

Was bringt der neue Verfassungsentwurf? – Er bringt vor allem die langumkämpfte Integration der Grund-, Freiheits- und Bürgerrechte in die einklagbare Europäische Verfassung. In Hinkunft wird ein europäischer Bürger, wenn er direkt betroffen ist, bis zum Europäischen Gerichtshof gehen können, um sein Recht einzuklagen. Da waren wir Österreicher übrigens federführend, denn wir haben ein sehr weit ausgebautes indi­viduelles Klagsrecht für unsere Bürger, und wir haben uns mit diesem Bereich durch­aus durchgesetzt.

Ein neuer Europäischer Außenminister wird geschaffen, die Institutionen werden abge­schlankt, die Verfahren werden vereinfacht, in Summe werden die Blockademöglich­keiten deutlich reduziert, und die Union der 25 gewinnt wieder eine Entscheidungskraft, wie sie früher einmal die Union mit neun Mitgliedsländern gehabt hat.

Das soll man nicht gering achten! Es ist dies eigentlich ein ganz großer Wurf, der da gelungen ist. Natürlich ist es ein Kompromiss! Auch wir haben nicht alle Vorhaben, die wir uns gemeinsam vorgenommen haben, zu hundert Prozent durchsetzen können, aber insgesamt sind wichtige Prinzipien, wie die Gleichheit der Mitgliedstaaten, die Aufwertung der nationalen Parlamente, der Schutz der Minderheiten, die Gerichtshof­kontrolle für Ratsbeschlüsse, erreicht worden.

 


Home Seite 1 Vorherige Seite Nächste Seite