Nationalrat, XXIV.GPStenographisches Protokoll93. Sitzung / Seite 183

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bis heute nicht aufgearbeitete Verurteilungen von Justizopfern im Zuge dieser Kämpfe wird in diesem Zusammenhang ebenfalls immer wieder ins Treffen geführt.

In der Tageszeitung Der Standard kann man heute lesen:

„Geben Sie mir einen versierten Verfassungsjuristen und in einer Woche liegt ein ent­sprechender Gesetzesentwurf auf dem Tisch.“ An der Wissenschaft liege es nicht, Ende des Jahres sollte spätestens ein Gesetz verabschiedet werden, findet Rathkolb: „Die Republik hat die Bringschuld. Immerhin feiert sie gerade intensiv einen ehe­maligen Hochverräter, Bruno Kreisky, dessen Verurteilung nie formal getilgt wurde.“

Es heißt in diesem Artikel weiters, dass ein Konzept für die Rehabilitierung der Opfer des Austrofaschismus bereits vor Monaten an Barbara Prammer und Fritz Neugebauer übergeben worden sei. Dies steht in krassem Widerspruch zu den seit über einem Jahr gleich bleibenden Wortmeldungen aus den Regierungsfaktionen. Noch Mitte Juli 2010 ließ Nationalratspräsidentin Prammer als Reaktion auf die Bemühungen der Grünen verlauten: Schnellschüsse seien nicht sinnvoll, „daher ist auch jedes Drängen über­flüssig und kontraproduktiv“ (APA0375, 16. 7. 2010.) Der Verweis des Zweiten Nationalratspräsidenten Neugebauer, es sei nötig, „eine seriöse wissenschaftliche Aufarbeitung sicherzustellen“, ist offensichtlich nicht mehr als eine Schutzbehauptung. Denn laut Medienberichten sind die Historiker Oliver Rathkolb, Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien, und Helmut Wohnout, Geschäftsführer des Karl-von-Vogelsang-Instituts, bereits seit Frühling 2010 mit einer Neubewertung des Dollfuß-Regimes befasst worden.

Die Gründe für die merkwürdigen politischen Verzögerungen in der Rehabilitierung der Opfer des Austrofaschismus bleiben unklar. Es steht zu befürchten, dass groß­koalitionäres Mauscheln die historische Forschung ersetzen soll, was weder dem Niveau der politischen Auseinandersetzung noch der Freiheit der Wissenschaft im Lande zur Ehre gereichen würde.

Dabei war der Nationalrat diesbezüglich schon einmal wesentlich weiter: „SPÖ, ÖVP und Grüne haben im Justizausschuss am Mittwoch einen Schritt Richtung Reha­bilitierung der Opfer des Austrofaschismus gemacht. Sie einigten sich darauf, in einem Forschungsprojekt die Justizakten der Jahre 1933 bis 1938 aufarbeiten zu lassen“ (APA0456, 17. 2. 2010). Dieses Forschungsprojekt ist bis heute nicht ausgeschrieben, geschweige denn realisiert worden, ist aber nach wie vor eine unabdingbare Voraussetzung für die politische Rehabilitierung.

Die Grünen haben anlässlich des 75. Jahrestags der Februarkämpfe 1934 eine Initiative zur Rehabilitierung der Justizopfer des Austrofaschismus gestartet. Die Abge­ordneten der Regierungsparteien müssen sich endlich entscheiden, ob für Österreich im Jahre 2011 weiterhin die Einschätzung der Kronen Zeitung gelten soll:

„Der Kanzler hat recht, wenn er der Grünen-Forderung nach einer sogenannten Aufar­beitung der Geschehnisse der Jahre 1934 bis 1938 nicht oder nur sehr zögerlich nachkommt. [] Niemand braucht eine sogenannte ‚Aufarbeitung‘, wenn diese nichts anderes darstellt, als Jahrzehnte nach den Geschehnissen mit hoch erhobenem Zeige­finger klüger sein zu wollen als die Akteure ihrer Zeit. [] Es wäre auch angemessen und fair, dem ermordeten Kanzler Engelbert Dollfuß endlich die ewige Ruhe zu gönnen. Dollfuß hat an Österreich geglaubt und dafür mit dem Leben bezahlt!“ (Kronen Zeitung, 21. 2. 2010)

Die Thesen von der „geteilten Schuld“ zwischen Sozialdemokratie und Christ­lich­sozialen oder vom heldenhaften Widerstand des Engelbert Dollfuß (dessen Porträt immer noch den ÖVP-Klub ziert) gegen den Nationalsozialismus weiter am Leben erhalten zu wollen, ist im Lichte des heutigen Forschungstandes schlicht falsch: Die


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