Nationalrat, XXV.GPStenographisches Protokoll175. Sitzung / Seite 73

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Wenn man sich ansieht, was die Ursachen für diese Entwicklung sind – Sie haben die Analysen wahrscheinlich noch so gut im Kopf wie ich –, dann muss man ganz klar sagen, es gab große Frustration: große Frustration über das Phänomen der Migration, große Frustration aber vor allem auch über die Abstiegsängste, die in vielen Regionen Großbritanniens, aber auch in anderen europäischen Ländern Realität sind; die Menschen auf unserem Kontinent haben das Gefühl, dass diese Selbstver­ständ­lich-keit, dass es den Kindern eines Tages besser gehen wird als ihren Eltern, gebrochen ist und nicht mehr eine Gegebenheit ist.

Wenn man sich das wiederum im Detail anschaut, dann muss man sagen, diese Zweifel werden wir nicht alleine dadurch ausräumen können, dass wir Feierstunden begehen, dass wir uns in Kommunikation ergehen, sondern diese werden wir nur dann beseitigen können, wenn es uns tatsächlich gelingt, die dahinterliegenden Probleme richtig zu adressieren, anzupacken und Lösungen anzubieten.

Es ist eine Realität in Europa, dass wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, dass es bei der Mittelschicht Einkommensverluste, Realeinkommensverluste gegeben hat. Wir haben erlebt, dass mehr Menschen denn je in Europa prekär arbeiten, voll­zeitberufstätig sind und mit diesem Einkommen trotzdem kein ordentliches Leben führen können. Und wir wissen, dass es zwar einen deutlichen Trend zur Verbes-serung gibt, dass es aber immer noch in etlichen europäischen Ländern insbesondere Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 40 Prozent und mehr gibt. Es gibt also tatsächliche Probleme, denen wir uns anzunähern haben. Das, was ich Ihnen geschildert habe, ist jetzt nicht das Ergebnis eines – sagen wir es einmal so – Gewerkschaftskongresses und der Analyse dort, sondern das ist das, was uns letzte Woche der Internationale Währungsfonds auf den Tisch gelegt hat.

Das Problem ist – das haben wir auch mehrfach erlebt; als Repräsentant Österreichs im Gremium der Staats- und Regierungschefs hat man das mit besonderer Intensität erlebt –, dass wir angesichts der Probleme heute mit Mechanismen arbeiten, die uns nicht in die Lage versetzen, diese Probleme sehr rasch und konsequent auszuräumen und dafür Lösungen zu finden. Es wird in diesem Europa immer schwieriger, einen Konsens zu finden, die unterschiedlichen, völlig dispersen Interessen unter einen Hut zu bringen und Lösungen anzubieten. Das ist das, worum es hier schlussendlich auch gehen muss, nämlich für konkrete Probleme konkrete Lösungen zu formulieren.

Deshalb haben wir uns im Rahmen der Erklärung von Rom rund um die Feierlichkeiten zu 60 Jahre Römische Verträge dafür entschieden, einen Reformprozess der Euro­päischen Union anzustoßen. Da sind wir jetzt an einem interessanten Punkt, der die innenpolitische Debatte auch in Österreich in den letzten Wochen und Monaten sehr stark geprägt hat; wir hatten nämlich eine Diskussion, in der es meiner Meinung nach sehr an der Oberfläche um die Frage ging: Wer ist für Europa? Wer ist gegen Europa? – Der springende Punkt ist, dass wir als kleines Land größtes Interesse daran haben, die Zweifel an Europa auszuräumen; das ist eine Selbstverständlichkeit. Wir sind eine offene Volkswirtschaft. Man kann darüber streiten, ob wir jenes Land sind, das am meisten oder vielleicht am zweit- oder am drittmeisten von der europäischen Einigung profitiert hat, aber die Effekte für Österreich sind jedenfalls völlig unbestritten und enorm. (Beifall bei der SPÖ und bei Abgeordneten der ÖVP.)

Genau deswegen, weil das so ist und wir sehen, was die problematischen Entwick-lungen sind, müssen wir uns aber heute einer differenzierten Diskussion stellen. Es geht ja nicht mehr nur um die Frage, ob man für oder gegen Europa ist, sondern es geht viel vordringlicher um die Frage: Welches Europa wünschen wir uns? In welchem Europa wollen wir unsere Zukunft gestalten?

 


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