Nationalrat, XXVI.GPStenographisches Protokoll45. Sitzung, 25. Oktober 2018 / Seite 45

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politische Rationalität, die wissenschaftliche Vermittlung unserer Realität, die letztend­lich in gute Politik zu fließen haben.

Wenn wir das heute konstatieren, dann reden wir nicht über Österreich alleine, sondern wir reden über eine Entwicklung im globalen Maßstab. Wir sehen das in Polen, wir sehen das in Ungarn, wir sehen das in Italien, wir sehen das in Südamerika, in Brasilien, wir erleben das auf den Philippinen, in Thailand, und der Großmeister dieser Disziplin sitzt im Weißen Haus: der Präsident der Vereinigten Staaten. Fast kommt es einem vor, als ob sich der Westen und seine Alliierten mit dem Virus der Antiaufklärung angesteckt hätten.

Es sind noch wenige Stunden, wenige Tage bis zum hundertjährigen Jubiläum der Ersten Republik, und das Parlament feiert diesen Anlass gebührend und mit Respekt. Ich halte das für wichtig, denn diese Erste Republik und dieser 12. November haben uns eine Lektion gelehrt, und das war jene, dass Demokratie keine Selbstver­ständ­lichkeit ist, dass Demokratie zerbrechlich ist.

Der große amerikanische Historiker Fritz Stern – 1938 musste er aus Deutschland emigrieren – hat einmal den Satz formuliert, dass die einfachste und tiefgreifendste Erfahrung seines Lebens war, wie zerbrechlich diese Freiheit ist. Einige Jahre später hat er in einem Interview – ich denke, es war sein letztes Interview – mit einer deut­schen Zeitung formuliert, er hat erlebt, wie in seiner Jugend Demokratie zerstört wor­den ist, und er stellt fest, dass zum Ende seines Lebens der Kampf um diese Demo­kratie wieder geführt werden muss. Ich denke, das sind Worte, die wir uns gerade in Österreich angesichts unserer Geschichte und des Umgangs, den wir mit ihr gepflogen haben, vergegenwärtigen müssen. Es ist die Erfahrung, die wir gerade in Österreich brauchen, dass diese Demokratie Rationalität und Geschichtsbewusstsein braucht.

Deshalb plädiere ich dafür, dass wir uns den 9. November ganz dick in unseren Kalendern anstreichen (Beifall bei SPÖ, NEOS und Liste Pilz), den 9. November, an dem das Novemberpogrom stattgefunden hat, das die Nazis die Reichskristallnacht genannt haben. An diesem Tag – bis heute – haben wir die Lektion gelernt, dass es ein schmaler Grat von der Gewalt der Worte zu der Gewalt der Taten ist.

Und ja, ich bin kein Anhänger der Einstellung, dass Worte und Sprache unschuldig sind. Das sind sie nicht, denn in der Politik geht es immer um Worte, Worte, die sich letztlich in Taten materialisieren und ausdrücken sollen. Deshalb ist es wichtig, da ein ganz besonders sensibles Bewusstsein zu haben, nicht eine Entwicklung in Gang zu setzen, die sich möglicherweise verselbstständigen mag.

Demokratie bedeutet aber auch das Prinzip, das im Artikel 1 der Menschenrechts­konvention festgelegt ist, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind. Wenn wir uns heute mit politischen Diskussionen auseinandersetzen, dann kann ich nur davor warnen, unsere Gesellschaft in Freunde und Feinde zu spal­ten, in das Wir und die Anderen. Es erfüllt mich mit einer gewissen Sorge, dass wir heute beginnen, den Wert von Menschen anzuzweifeln, sie zu Menschen zweiter Kategorie zu machen. Ich denke hier insbesondere an unsere muslimischen Mitbürger. (Beifall bei SPÖ, NEOS und Liste Pilz.)

Demokratie braucht aber nicht nur Werte und Zusammenhalt, sondern sie benötigt auch das Engagement der vielen. Politik ist zu wichtig, um sie nur Berufspolitikern zu überlassen, und deshalb ist es so wichtig, dass wir eine starke und wache Zivil­gesellschaft haben, auch wenn das vielleicht manchmal dem einen oder anderen lästig vorkommen muss: Es ist eine Ermunterung, die wir den Menschen in diesem Land geben müssen, sich zu engagieren, für ihre Überzeugungen und ihre Werte letztend­lich einzutreten, weil diese Zivilgesellschaft einen erheblichen Einfluss auf den Lauf der


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