Nationalrat, XXVI.GPStenographisches Protokoll60. Sitzung, 30. Jänner 2019 / Seite 124

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Wenn einer von uns also meint und auch sagt, dass er bestimmte verfassungs­gesetz­liche Regelungen vor dem Hintergrund seiner eigenen politischen Haltung nicht für gerecht und deshalb auch nicht für richtig hält (Abg. Steger: Schon wieder wird was unterstellt!), dann ist das das Normalste auf der Welt. Das ist weder absurd noch ist es skandalös, es sollte vielmehr eine nicht weiter erwähnenswerte Selbstverständlichkeit sein. (Abg. Belakowitsch: Ja!)

Ich würde mir ja in vielen Belangen wünschen, dass wir den geltenden Gesetzen mit einer aus nachvollziehbarer Haltung gewonnenen Skepsis gegenüberstünden. (Abg. Steger: Das passiert ja auch!) Und genau das ist es, horribile dictu, was der junge Journalist Karl Marx 1842 ausgerufen hat: „Die rechtliche Natur der Dinge kann sich [...] nicht nach dem Gesetz, sondern das Gesetz muss sich nach der rechtlichen Natur der Dinge richten.“

Herr Kickl scheint also Montesquieu und Marx auf seiner Seite zu haben. Und die Herren Blümel, Strache und Gudenus und etliche mehr haben vordergründig nicht anders argumentiert als der humanistische Montesquieu und der damals jung eifernde Karl Marx.

Die Sache steht aber nur ganz oberflächlich, sozusagen auf den ersten Blick, zuguns­ten unseres Innenministers, denn die Republik steht nicht im Orbit einer irreal humanis­tischen Weltweisheit, sondern in einer tatsächlichen Welt. (Abg. Rosenkranz: Ach so! – Ruf bei der FPÖ: War doch klar, oder?) Und zu dieser tatsächlichen Welt gehört zunächst, dass die Europäische Menschenrechtskonvention nicht, wie das Kollege Gudenus in bekannt geschmackvoller Weise zum Besten gegeben hat, von Gott gegeben wurde, nein, sondern sie wurde dem leidvollen Erfahrungsschatz der Nazi­herr­schaft enthoben.

Mit aller Deutlichkeit uns Parlamentariern hier zur Erinnerung: Die Europäische Men­schenrechtskonvention ist nicht einfach nur ein Gesetz – das ist sie natürlich auch, und zwar ein Verfassungsgesetz dieser Republik, und ein völkerrechtlich verbindlicher Ver­trag überdies –, sondern sie ist geronnene Politik aus der Erfahrung der Vergangen­heit. Sie ist geschlossen worden, um in Europa ein Zurückschlittern ins Autoritäre, ins Tyrannische zu verhindern.

Mein Kollege Alexander Somek hat das auf den Punkt gebracht, wenn er von der Europäischen Menschenrechtskonvention sagt: „Die Grundidee ist, Menschenrechts­verstöße als Anzeichen für das Auftreten von ,tyrannischen Mehrheiten‘ zu deuten.“ Er fügte überdies hinzu: „Die populistisch aufgehetzte Herrschaft der Mehrheit entledigt sich schnell der Fessel der demokratischen Kontrolle und zementiert sich ein.“ – Das ist unser Problem mit dem Herrn Innenminister. (Beifall bei JETZT und SPÖ.)

Wenn Herr Kickl, der Innenminister dieser Republik, den unbedingten Vorrang der Politik vor dem Recht postuliert, dann ist das in doppelter Weise demagogisch, und es ist auch falsch, denn die Europäische Menschenrechtskonvention ist ja gerade der entschlossene und in völkerrechtlich verbindliche Vertragsform gegossene Ausdruck einer immanent politischen Haltung.

Wenn Herr Kickl sich gegen die Europäische Menschenrechtskonvention wendet und dies seinem Publikum als Scharmützel zwischen seiner freiheitlichen Politik und den ach so rückständigen Gesetzen verkaufen will, dann betreibt er ein falsches Spiel. Er sieht bewusst davon ab, dass ebendieses Gesetz, nämlich die Europäische Menschen­rechtskonvention, Ausdruck einer ganz bestimmten und auch einer ganz unzwei­deuti­gen politischen Haltung ist, und tatsächlich will er deshalb nicht seine richtige und vorgeblich allein zeitgemäße Politik gegen ein falsches und als ältlich denunziertes Gesetz zum Einsatz bringen, sondern er will die von der Europäischen Menschen­rechts­­konvention zum Ausdruck gebrachte und festgeschriebene politische Haltung durch


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