13.05.10Dringliche Anfrage

der Abgeordneten Mag. Jörg Leichtfried, Kolleginnen und Kollegen an den Bun­deskanzler betreffend „Scheitern der Bundesregierung Kurz“ (3619/J)

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Wir gelangen zur dringlichen Behandlung der schriftlichen Anfrage 3619/J. Da sie inzwischen allen Abgeordneten zugegangen ist, erübrigt sich eine Verlesung durch die Schriftführung.

Die Dringliche Anfrage hat folgenden Wortlaut:

„‘Zeit für Neues‘, versprach Sebastian Kurz 2017 – und neue Zeiten sind in der Tat an­gebrochen, wenn auch völlig anders, als Kurz sich das in seinen düstersten Albträu­men hätte ausmalen können. Österreich kommt aus dem Wundern nicht heraus, was politisch alles möglich ist: Türkis-Blau, großspurig auf zehn Jahre angelegt, hochkant nach nur eineinhalb Jahren gescheitert.“, Profil, 26. Mai 2019, S. 32.

Was aber haben die eineinhalb Jahre in Österreich verursacht? Die Gesellschaft ist ge­spalten, die Solidarität in Österreich wurde abgebaut, nur die Hasspostings in den so­zialen Netzwerken sind radikal angestiegen. Die Sozialdemokratie hat diese Entwick­lung seit der Regierungsbildung im Jahr 2017 heftig kritisiert. Im Gegensatz dazu hat Bundeskanzler Sebastian Kurz diese Entwicklungen schöngeredet, bis vorvergange­nen Freitag aufgrund der Berichterstattung des Spiegels und der Süddeutschen Zei­tung Ausschnitte des Ibiza-Videos an die Öffentlichkeit gelangten.

In der Diskussionssendung „Im Zentrum“ hat der engste Vertraute vom Bundeskanzler Kurz, sein Kanzleramtsminister Blümel, am 19. Mai 2019 Folgendes ausgeführt:

„Der Auslöser für die Situation, die wir jetzt haben, ist das Video, das wir alle gesehen haben, von dem wir offensichtlich alle erschüttert waren, wo es um möglichen Macht­missbrauch geht, um potentielle illegale Parteienfinanzierung und andere Themen. Und es ist ja vollkommen klar, dass man wenn solche Vorwürfe im Raum stehen, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann, auch nicht wenn die direkt betroffenen Personen zurücktreten. Da braucht es glaubwürdige, lückenlose Aufklärung und nach­dem das in unseren gestrigen Gesprächen auch nicht in der Form da war, wie das aus unserer Sicht notwendig war, war es notwendig dieses Projekt auch zu beenden.“

Es handelt sich dabei um keinen Vertreter der Opposition, nein, sogar einer der wich­tigsten Bundesminister dieser Regierung spricht von illegaler Parteienfinanzierung, Macht­missbrauch durch Teile dieser Bundesregierung und anderen, nicht genauer beschrie­benen Themen.

Aus der Formulierung und aus vielen anderen Hinweisen ergibt sich aber zwingend der Sachverhalt, dass Bundeskanzler Kurz entgegen der Meinung der Bürgerinnen und Bürger gar nicht in Neuwahlen gehen wollte, sondern diese Koalition fortsetzen wollte, wenn sich Bundesminister Herbert Kickl damit abgefunden hätte, ein anderes Ressort zu übernehmen. Mit diesem Hintergrundwissen erscheint das öffentliche Auftreten des Bundeskanzlers in den letzten Tagen noch hinterfragenswerter. Reiner Machterhalt und ein egozentrischer Grundzugang des Bundeskanzlers bestimmen seine Entschei­dungen, die alle auf eine Frage hinauslaufen: Was nützt Sebastian Kurz am meisten?

Diese Feststellung musste aber nicht alleine die Opposition machen, nein vielmehr musste sein Vorgänger als ÖVP Parteivorsitzender diese Charakterzüge an sich selbst spüren. In einer putschähnlichen Situation hat Sebastian Kurz die ÖVP übernommen und sich selbst beinahe unbeschränkte Machtbefugnis eingeräumt. Dies alles ist minu­tiös in Reinhold Mitterlehners Buch „Anstand“ nachzulesen, welches ein detailliertes Psychogramm von Sebastian Kurz zeichnet. Es verwundert nicht, dass dieses Buch sofort Nummer 1 in Österreich im Bereich der verkauften Sachbücher wurde.

Fest steht, dass Sebastian Kurz zu jedem Zeitpunkt dieses gefährlichen Experiments wusste, was er tat. Sein Experiment, das er allen Warnungen zum Trotz verwirklichte, hat nachhaltigen Schaden für die Demokratie, die Pressefreiheit, den Rechtsstaat, das internationale Ansehen Österreichs und den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft angerichtet.

Denn das wird letztlich die Bilanz dieses desaströsen Experiments, das Sebastian Kurz entgegen jeder Vernunft durchzuführen entschied, sein. In der Amtszeit dieser Bundes­regierung wurde die Sozialversicherung zerschlagen, die 60 Stundenwoche eingeführt, der Verfassungsschutz international handlungsunfähig gemacht, die soziale Absiche­rung für kinderreiche Familien wurde herabgesetzt und Österreich im Pressefreiheits­ranking um fünf Plätze zurückgeworfen.

Für alle diese Dinge trägt Sebastian Kurz als Bundeskanzler die Verantwortung.

Als vergangenen Freitag die Videos vom Vizekanzler der Regierung Kurz und dem Klubobmann der FPÖ bekannt wurden und eine Welle des Entsetzens durch Öster­reich rollte, meldeten sich viele Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger zu Wort, versuchten Wege aus dieser Situation für alle Menschen im Land aufzuzei­gen. Politikerinnen und Politiker positionierten sich, Medien recherchierten und kom­mentierten, das Herz der Demokratie schlug im sicheren Takt weiter.

Nicht so beim Bundeskanzler.

Obwohl er bereits 48 Stunden davor Kenntnis von den Videos und ihren Inhalten er­langt haben soll, gab Kanzler Kurz den gesamten Samstag über kein Statement ab. Im Gegenteil, die Menschen am Ballhausplatz, vor den Fernsehern und Radios warteten den gesamten Tag vergeblich auf ein Statement des Bundeskanzlers, das immer wie­der verschoben wurde.

Als Kurz abends schließlich doch noch vor die Kamera trat, war Erstaunliches zu vernehmen. Er habe viel erdulden müssen in den vergangenen zwei Jahren, er habe quasi leiden und sich opfern müssen. Nicht jene, die unter dem Rechtspopulismus, der Spaltung der Gesellschaft und der Politik dieser Bundesregierung zu leiden hatten. Nicht wir. Nur er.

Kurz erklärte den über acht Millionen Menschen im Land tatsächlich, er habe es nicht kommen sehen, die Regierung sei ausgezeichnet gewesen und er werde auch in Zu­kunft seinen Zugang nicht ändern.

Binnen nur 24 Monaten trägt Kurz also die Verantwortung dafür, zweimal eine Bundes­regierung aufgelöst zu haben, weil es für ihn, und für niemand anderen, eine Besse­rung bedeutet. Dies zeigt einen beispiellosen politischen Zugang, der aus persönli­chem Streben nach Macht alle anderen Interessen hintanstellt.

Genauso bedeutend für die Einschätzung der Situation ist allerdings, wie Sebastian Kurz seit Bekanntwerden des Videos als Bundeskanzler agierte. Ohne Gespräche mit den Vorsitzenden der anderen im Nationalrat vertretenen Parteien zu führen, rief der Bundeskanzler einseitig Neuwahlen aus. In einem parlamentarischen Regierungssys­tem wäre es eine Selbstverständlichkeit, zunächst mit den anderen im Nationalrat ver­tretenen Parteien bezüglich der Frage in Kontakt zu treten, ob für die Bundesregierung bzw. für die verbliebenen Mitglieder der Bundesregierung noch eine Mehrheit im Na­tionalrat besteht und wie die Zukunft der Zusammenarbeit aussehen soll.

Der Bundeskanzler hat sich jedoch für eine Vorgangsweise entschieden, die auch in allen Medien als Wahlkampfrede verstanden wurde und in der er versuchte, die sozial­demokratische Partei mit dem beschämenden Video in Zusammenhang zu bringen. Letztlich ging es ihm also wieder darum, seine persönlichen Interessen zu stärken und aus dieser desaströsen Situation politischen Profit zu ziehen.

Auch im Zusammenhang mit der Bestellung von neuen anstelle der ausgeschiedenen Mitglieder der Bundesregierung, die der FPÖ angehörten, wurden die anderen im Na­tionalrat vertretenen Parteien nicht miteinbezogen. Noch verstörender jedoch war die Vorgangsweise bei der Bestellung der sogenannten Kabinettschefs. Für die neuen Mit­glieder in der Bundesregierung wurden engste Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundeskanzlers ausgesucht und als Kabinettsmitarbeiter bestellt. In den Medien wurde dieser Vorgang als Bestellung einer ÖVP-Alleinregierung gewertet.

Es ist also festzuhalten, dass Bundeskanzler Sebastian Kurz auch nach der Veröffentli­chung des Videos keine vertrauensbildenden Maßnahmen gegenüber dem Nationalrat setzte, sondern all seinem Handeln seine eigenen Interessen unterlegte.

Aus den obigen Gründen stellen die unterzeichneten Abgeordneten daher folgende

Anfrage

1.         Wann haben Sie als Bundeskanzler die Entscheidung Neuwahlen anzustreben getroffen und wann wurden die ersten Vorbereitungshandlungen dafür gesetzt?

2.         Wann und woher haben Sie als Bundeskanzler erstmals von der Existenz von den Ibiza-Videoaufnahmen erfahren, die Teile ihrer Bundesregierung belasten?

3.         Wann und woher haben Sie als Bundeskanzler erstmals vom Inhalt der Ibiza-Videoaufnahmen erfahren?

4.         Wann und wo haben Sie als Bundeskanzler erstmals Ausschnitte der Ibiza-Videoaufnahmen gesehen, um welche Ausschnitte handelte es sich dabei, und über welche Quelle erlangten sie Zugriff auf diese Aufnahmen?

5.         Wann haben Sie als Bundeskanzler erstmals die Möglichkeit erhalten, das ge­samte Ibiza-Videomaterial zu sehen, und über welche Quelle erlangten sie Zu­griff darauf?

6.         Welche Personen und Organisationseinheiten des Bundes haben Sie bzw. Ihr Generalsekretär oder Bedienstete Ihres Kabinetts oder des Büros des General­sekretärs zu welchem Zeitpunkt über die Existenz der Ibiza-Videoaufnahmen und deren Inhalt informiert?

a.         Haben Sie als Bundeskanzler dieses Material insbesondere der WKStA und dem Bundeskriminalamt zur Verfügung gestellt, zu welchem Zeitpunkt und auf welche Art und Weise erfolgte dies jeweils?

b.         Welche Maßnahmen haben Sie als Bundeskanzler im Hinblick auf die derzeit prekäre Situation der WKStA getroffen, um die Unabhängigkeit der Ermittlungen sicherzustellen?

c.         Welche Maßnahmen haben Sie als Bundeskanzler im Hinblick auf eine etwaige Berichtspflicht an Generalsekretär Christian Pilnacek in dieser Angelegenheit getroffen?

7.         Wurden Sie als Bundeskanzler vom BVT über diese Sachverhalte informiert und zu welchem Zeitpunkt und auf welche Art und Weise erfolgte diese Infor­mation?

8.         Haben Sie als Bundeskanzler bezüglich dieser Sachverhalte von Ihrem Aus­kunftsrecht gegenüber dem BVT, dem Heeresnachrichtenamt oder dem Ab­wehramt Gebrauch gemacht, wenn ja zu welchem Zeitpunkt und auf welche Art und Weise?

9.         Haben Sie als Bundeskanzler Informationen, wonach das BVT in diese Sach­verhalte verwickelt war oder ist?

10.       Wann haben Sie als Bundeskanzler über diese Sachverhalte (Ibiza-Video) den Bundespräsidenten informiert und was waren die Reaktionen des Herrn Bun­despräsidenten?

11.       Wann haben Sie als Bundeskanzler die ersten Gespräche mit den Klubvorsit­zenden der anderen im Nationalrat vertretenen Parteien geführt, um diese über die Vorfälle umfassend zu informieren, wie das in einer parlamentarischen De­mokratie üblich ist?

12.       Mit der Entlassung von Herbert Kickl als Innenminister wurde erstmals in dieser Republik ein solcher Vorgang gesetzt. Wann haben Sie die RepräsentantInnen der im Nationalrat vertretenen Parteien über diesen in Aussicht genommenen außergewöhnlichen Schritt informiert?

13.       Können Sie als Bundeskanzler ausschließen, dass Sie als Bundeskanzler oder einer Ihrer Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter die Medien bereits im Vorfeld – al­so vor den Gesprächen mit den Parteivorsitzenden - über die geplante Entlas­sung des Bundesministers für Inneres das erste Mal informiert haben?

14.       Wann haben Sie als Bundeskanzler die im Nationalrat vertretenen Parteien da­rüber informiert, dass Sie Bundesminister Hartwig Löger dem Bundespräsiden­ten als Vizekanzler vorschlagen werden?

15.       Wann haben Sie als Bundeskanzler die im Nationalrat vertretenen Parteien da­rüber informiert, welche Personen Sie dem Bundespräsidenten für die vakanten Funktionen in der Bundesregierung vorschlagen werden?

16.       Können Sie ausschließen, dass Sie als Bundeskanzler oder einer Ihrer Mitar­beiterinnen oder Mitarbeiter die Medien bereits im Vorfeld – also vor den Ge­sprächen mit den Parteivorsitzenden – über diese Personen unterrichtet haben?

17.       Warum haben Sie als Bundeskanzler die gemeinsamen Gespräche mit den an­deren im Nationalrat vertretenen Parteien erst nach allen personellen Entschei­dungen geführt?

18.       Welche Kenntnisse haben Sie als Bundeskanzler und Vorsitzender der Öster­reichischen Volkspartei darüber, wie viele Plakatflächen die ÖVP samt allen Gliederungen derzeit in jedem Bundesland und insgesamt reserviert hat und wann wurden die Aufträge erteilt, diese Reservierungen vorzunehmen?

19.       Haben Sie als Bundeskanzler und Chef dieser Bundesregierung Maßnahmen gesetzt, um zu verhindern, dass irgendein Aktenmaterial, Aktenvermerke, E-Mails oder andere Aufzeichnungen der Regierungsmitglieder, deren Kabinette, der Generalsekretäre und deren Büros sowie aller anderen Bediensteten des Res­sorts unzulässiger Weise und rechtswidrig vernichtet werden? Wenn ja, wie lau­tet die Anordnung an die Ressorts zum Umgang mit Akten?

20.       Haben Sie als Bundeskanzler bereits Schritte eingeleitet, um allen möglichen Korruptionsvorgängen und illegalen Parteifinanzierungen nachzugehen und wenn ja, welcher Art sind diese Untersuchungen?

21.       In den Medien werden Sachverhalte dargestellt, wonach auch die Regierungs­partei ÖVP in ihrem Naheverhältnis Vereine habe, die unter anderem der Par­teienfinanzierung dienen. Welchen Kenntnisstand als Bundeskanzler und Par­teivorsitzender haben Sie hinsichtlich solcher Vereine im Umfeld der ÖVP?

22.       Zu welchem genauen Zeitpunkt haben Sie entschieden, die Koalition mit der FPÖ nicht fortsetzen zu wollen?

a.         Aus welchen Gründen haben Sie diese Entscheidung getroffen?

b.         Aus welchen Gründen sind Sie nicht unverzüglich nach dieser Entscheidung in Kontakt mit dem Nationalrat getreten?

23.       Was hätte sich an diesen Gründen geändert, wenn Herbert Kickl anstatt des BMI ein anderes Ressort – etwa das heikle Verteidigungsressort oder das wirt­schaftlich grundlegend bedeutende Infrastrukturressort übernommen hätte?

24.       Sind Sie als Bundeskanzler und ressortzuständiges Regierungsmitglied für die Parteienfinanzierung den Vorwürfen des ehemaligen Vizekanzlers Heinz Chris­tian Strache bereits nachgegangen, wonach die beiden Regierungsfraktionen mög­licherweise rechtswidrige Spenden von Großspendern erhalten haben, wobei insbesondere die Namen Glock, Novomatic, Horten und Benko ausdrücklich ge­nannt wurden?

25.       Laut Medienberichten wurden zu Kabinettschefs bzw. Kabinettsmitgliedern der neuen vier Mitglieder der Bundesregierung Ihnen persönlich und politisch äu­ßerst nahestehende Personen ernannt. Haben Sie oder Bedienstete Ihres Ka­binetts, Ihr Generalsekretär oder Bedienstete Ihres Büros auf die Bestellung der Kabinette der neuen Mitglieder der Übergangsregierung Einfluss genommen?

In formeller Hinsicht wird darum ersucht, diese Anfrage dringlich zu behandeln.“

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Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Ich darf Herrn Abgeordnetem Leichtfried als ers­tem Fragesteller zur Begründung der Anfrage, die gemäß § 93 Abs. 5 der Ge­schäftsordnung 20 Minuten nicht überschreiten darf, das Wort erteilen. – Herr Abgeord­neter, Sie sind am Wort.