Sigurd BAUER: In der berühmten Milchbar gab es bis zum Landwirtschaftsminister Fischler keine Milch– das war das einzige, was es dort nicht gegeben hat.
Werner ZÖGERNITZ: Also hier waren wirklich Leute, die wahnsinnig viel Sachwissen hatten.
Karl SMOLLE: In dem Sinne ist dieses Zusammenspielen von außerhalb des formellen Teiles und von der Cafeteria aus nicht unwichtig, obwohl man immer geschimpft wird: "Die sitzen eh nur in der Cafeteria oder ‚Milchbar‘", wie man früher gesagt hat. Ja, ja, wir saßen oft dort.
Clemens HAIPL: Hallo und herzlich willkommen bei "Geschichten aus dem Parlament". Mein Name ist Clemens Haipl und hier hören Sie alle zwei Wochen Anekdoten, persönliche Erinnerungen und Geschichten von ehemaligen Abgeordneten, Mitarbeitern der parlamentarischen Klubs und der Parlamentsdirektion.
Jingle: Geschichten aus dem Parlament.
HAIPL: Wir befinden uns im Jahr 1945, also alles schwarz-weiß, auch dieser Podcast. Das Parlamentsgebäude wird neugestaltet. Und in zwei Räumen zwischen der Säulenhalle und dem Plenarsaal entsteht eine Cafeteria: die Milchbar genannt. Bis zu 40 Gäste passen dort hinein, man sitzt im schummrigen Licht auf blauen Sesseln im Stil der 50er Jahre, Sitzgelegenheiten, die damals modern und heute eigentlich wieder total hip sind. Der ehemalige Parlaments-Vizedirektor Sigurd Bauer erklärte in einem Gespräch 2018 über seine Arbeit im Parlament:
BAUER: Es war damals eine angenehme, gemütliche Atmosphäre, auch unter den Fraktionen. Es hat ja die berühmte "Milchbar" gegeben, und während der Sitzung und nach der Sitzung sind die Abgeordneten – das wäre heute ausgeschlossen – fraktionsdurchmischt nach Herkunftsbereichen, die Oberösterreicher und die Steirer, beisammengesessen und haben das eine oder andere Glas Wein konsumiert.
HAIPL: Die Essensauswahl in der Milchbar ist überschaubar. Aber ein paar Würstel gibt es allemal und in der Not macht auch das satt. Serviert werden die von der Kellnerin Frau Kainz. Für jene, die dort bestellen, ist die blonde Kellnerin einfach nur Frau Kainz. Ein Vorname ist nicht bekannt und geschichtlich nicht zu eruieren – zumindest schreibt es so der Journalist Christoph Kotanko, der als innenpolitischer Redakteur der österreichischen Wochenzeitung "profil" in der Milchbar dem nachgeht, was man dort so macht: mit Abgeordneten ins Gespräch kommen! Wichtig dazu ist dann nicht nur das Essen, sondern auch und vor allem das Trinken. Und die Abgeordneten trinken hier viel. Vor allem Kaffee, aber auch das eine oder andere Bier und hier und da ein Wein soll auch getrunken worden sein. Sigurd Bauer erinnert sich:
BAUER: In der berühmten Milchbar gab es bis zum Landwirtschaftsminister Fischler keine Milch – das war das einzige, was es dort nicht gegeben hat.
HAIPL: Untrennbar mit der Milchbar verbunden ist auch ein Kellner: der "Herr Rudi", der natürlich mit vollständigem Namen Rudolf heißt – Rudolf Wahl. Eine besondere Ehre ist es, vom Herrn Rudi mit Namen angesprochen zu werden. So schreibt die Politik-Journalistin Katharina Krawagna-Pfeifer einmal: "Von ihm mit Namen angeredet zu werden, galt unter den neuen Abgeordneten und bei den Parlamentsjournalisten, die eine eigene Kaste bilden, als Adelsprädikat." Das kennt jeder Wiener aus dem Kaffeehaus: Wenn man nicht ignoriert wird und beschimpft wird vom Kellner, ist man schon vorne dabei. Für Journalisten wird die Milchbar schnell interessant. Es ist der Ort, wo vielleicht das ein oder andere exklusive Gespräch zustande kommt, wo sich vielleicht sogar ganz nah miterleben lässt, wie Abstimmungen verhandelt, Kompromisse geschlossen werden – ein nicht von der Hand zu weisender Vorteil bei der Parlamentsarbeit, wie sich der ehemalige Abgeordnete Karl Smolle erinnert:
SMOLLE: Es sind Interessen abzuwägen. Und da ist es natürlich oft störend, wenn da die Opposition plötzlich sagt: "Na na, da fehlt doch ganz ein wichtiges Kapitel". Aber es fällt letztlich nicht ganz unten am Boden hin, was man vorschlägt. Irgendwann kommt es doch wieder, weil es, wenn man anständig Opposition betreibt, ein Problem anspricht, das ja da ist, für das man nur noch keine Lösung bzw. regierungskonforme Lösung hat. Also, in dem Sinne ist dieses Zusammenspiel von außerhalb des formellen Teiles und von der Cafeteria aus nicht unwichtig, obwohl man immer geschimpft wird: "Die sitzen ja eh nur in der Cafeteria oder ‘Milchbar‘", wie man früher gesagt hat. Ja, ja, wir saßen oft dort, aber einige Probleme haben wir auch dort gelöst, oft auch die nicht gerade mit wenig Schwierigkeiten behafteten.
HAIPL: Ähnlich erlebt es auch Alois Leitner, früher Abgeordneter im Parlament der ÖVP. Damals regierte die ÖVP alleine. Es braucht die Novelle eines Gesetzes. Im Unterausschuss kommt man nicht voran.
Alois LEITNER: Aber wir brauchen das Gesetz, denn sonst läuft das aus, und auslaufen können wir es nicht lassen. Das hat jeder gewusst. Dann haben wir uns einmal in einem Unterausschuss im Parlament zurückgezogen in die Milchbar. Ein paar Abgeordnete von uns und ein paar Sozialisten, da waren damals der Gratz und die Firnberg und die Stella Klein-Löw. Und dann haben wir ewig lange in der Milchbar geredet. Das andere Zimmer heraußen war voller Journalisten. Wenn einer das Gesicht rausgestreckt hat, dann … – die Aussicht war also schwierig. Dann haben sich die Firnberg und die Stella Klein-Löw, die zwei Frauen, wieder zu einem privaten Gespräch zurückgezogen. Dann habe ich gesagt: "Da siehst du, die gehen, und der Gratz bleibt drinnen." – Der hat ein bisschen eine andere Meinung gehabt. Dann sind die Frauen gekommen, dann gab es einen Kompromiss, und damit war der Ausschuss schnell erledigt.
HAIPL: In der Milchbar werden Gräben überwunden und scharfe Kanten geglättet. Gleichzeitig erinnert sich der ehemalige Vizekanzler und Frauenminister Herbert Haupt, dass die Milchbar kein Ort ist, an dem nur gekuschelt wird. Aber es ist der Sache dienlich.
Herbert HAUPT: Es ist in der alten Milchbar im Keller oft hoch hergegangen, aber man sollte nicht vergessen: Schlussendlich haben die damaligen Debatten auch die Qualität gehabt, dass Dinge, die sich dann im Rahmen der Debatte als kontroversiell herausgestellt haben, aber gar nicht von der Hand zu weisen waren, in dem einen oder anderen Punkt in einer Novelle sofort weiterbehandelt worden ist.
HAIPL: In den ersten Jahren ist der Kreis der Gäste in der Bar eher ausgewählt: Nur Abgeordnete und andere Politiker haben Zutritt. Das ändert sich aber bald und so wird die Milchbar auch gerne von innenpolitischen Redakteuren besucht. Und es mischen sich hier junge, frisch gewählte Abgeordnete mit altgedienten Politikern und Amtsträgern, von denen man vielleicht ein bisschen was lernen konnte. Und unter anderem deshalb ist auch der ehemalige Nationalratsabgeordnete Heribert Steinbauer immer wieder in der Milchbar anzutreffen.
Heribert STEINBAUER: Du musst wirklich langsam das Parlament und die Maschinerie selber entdecken, du musst auch erkennen, wo du dich ernähren kannst. Zu meiner Zeit hat es noch die Milchbar gegeben, eine der hochromantischen Erinnerungsstätten, wo bisweilen der Bundeskanzler Kreisky gütig hereinkam, um auch Kaffee zu trinken oder die Abgeordneten quer durch die Fraktionen mit einigen Brosamen an Worten aufzurichten oder anzusprechen.
HAIPL: Es ist zwischen 1945 und 1983 also nichts anderes als ein Ort des Austauschs und Teil der politischen Kultur Österreichs – oder vielmehr Wiens. 1983 kommt das Ende. Der Grund dafür: Der damalige Vizekanzler Norbert Steger suchte ein Vizekanzlerzimmer, dem schließlich die Milchbar weichen musste. Mag sie dem einen oder anderen auch nicht fehlen, die Milchbar hat als Treffpunkt für Abgeordnete und Journalisten und Journalistinnen jener Zeit Politikgeschichte geschrieben. Darum schließt dieser Podcast mit den Worten des ehemaligen ÖVP-Clubdirektors Werner Zögernitz aus dem Jahr 2016 über die Milchbar.
ZÖGERNITZ: Also hier waren wirklich Leute, die wahnsinnig viel Sachwissen hatten. Das war damals nicht so medienbekannt, das war auch irgendwie amikaler, wenn Sie sich noch an die Milchbar erinnern können, da sind rote, schwarze, blaue Mandatare plus Journalisten nebeneinander gesessen. Es war überhaupt die Atmosphäre sachlicher und vielleicht ein bisschen amikaler. Das hat sich dann mit dem Einzug in den 80er Jahren – leider oder Gott sei Dank, wie immer Sie wollen – geändert.
HAIPL: Noch mehr über das Parlament und seine Geschichte finden Sie auf parlament.gv.at. Das war "Geschichten aus dem Parlament", mein Name ist Clemens Haipl und ich sage auf Wiederhören. Bis zum nächsten Mal. Ciao, ciao.
Jingle: Geschichten aus dem Parlament.