Herbert KOHLMAIER: Die Leute, die oft ein bisschen unreflektiert über den Klubzwang schimpfen, bedenken nicht, was es für einen Eindruck machte, wenn immer wieder in den Parteien die Leute unterschiedlich abstimmen.
Heinz FISCHER: Man muss Meinungen zu abstimmbaren Alternativen komprimieren. Ich kann nicht 17 verschiedene Varianten haben, wie ich die Landesverteidigung organisiere, oder 700 oder 7000.
Matthias STROLZ: Willst du es nicht mittragen? Wenn er sagt: "Na, ich trag’s nicht mit, weil ich seh‘ das anders, ich schlaf noch mal drüber". Vielleicht bist du ja sehr beschäftigt bei der Abstimmung?!
Clemens HAIPL: Hallo und herzlich willkommen! Mein Name ist Clemens Haipl und Sie hören den richtigen Podcast, wenn Sie Politik etwas anders verstehen wollen. Aus dem Archiv des Parlaments gibt es hier alle zwei Wochen persönliche Erinnerungen und Anekdoten von Mitgliedern des National- und Bundesrats, von ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der parlamentarischen Klubs und der Parlamentsdirektion. Es gibt Geschichte und Geschichten aus Gesprächen zu hören, die in den vergangenen Jahren geführt wurden. Also, bereit für einen Einblick in den Maschinenraum des österreichischen Parlamentarismus? Ausgezeichnet! In der heutigen Folge geht es um den viel zitierten, aber nirgends fixierten Klubzwang…
Jingle: Geschichten aus dem Parlament.
HAIPL: Klubzwang. Das Wort allein verspricht ja schon Druck, Dramatik und eher Unbehagen. Und es erweckt auch den Anschein, dass jemand mit der Peitsche hinter den Abgeordneten steht, wenn bei einer Abstimmung der eine Klub geschlossen für einen Antrag stimmt und ein anderer Klub geschlossen dagegen. Es muss ja einen Grund geben, warum es "Klubzwang" heißt und nicht "Klubempfehlung" heißt. Für den ehemaligen ÖVP-Abgeordneten Gerhart Bruckmann hat das aber einen Grund.
Gerhart BRUCKMANN: Die gegenwärtige Gesellschaft ist so komplex geworden, dass die Erarbeitung von Gesetzesnovellen eine unglaubliche Fachkenntnis erfordert. Der normale Weg der Gesetzgebung, der in der Öffentlichkeit viel zu wenig so als solcher gesehen wird, ist der: Es kommt die Ministerialvorlage, im Ministerium wird sie vorgelegt, dem Ministerrat, – ich verkürze jetzt das Ganze –, der Ministerrat segnet es ab und gibt sie dem Parlament zur Beschlussfassung. Im Parlament kommt sie dann natürlich in den Ausschuss, Unterausschuss und so fort. Aber schon die Vorlage im Ministerium wird ja gemeinsam mit der Handvoll Abgeordneten gemeinsam erarbeitet – im Idealfall –, die auf diesem Gebiet Fachleute sind.
HAIPL: Und der ehemalige Vizekanzler Dr. Erhard Busek sieht es so:
Erhard BUSEK: Es muss ein Abgeordneter darauf vertrauen, dass der, der sich ein bisschen besser auskennt, ihm sagt: "Du, pass auf, dem müssten wir eigentlich hier zustimmen."
HAIPL: Es geht also gar nicht um Zwang. Sondern um Vertrauen. Und darum, dass nicht jeder Abgeordneter bei jedem Thema Experte ist und jeden Gesetzesentwurf bis ins Detail kennen kann. Das ist auch ein Grund, warum es parlamentarische Klubs und politische Parteien gibt. Man braucht diese, um eine ordnungsgemäße und sinnvolle Willensbildung zu gewährleisten. Der ehemalige Bundespräsident und ehemalige Nationalratspräsident Heinz Fischer begründet das auch damit, man könne mit über 6 Millionen Wahlberechtigten …
FISCHER: […] nicht ununterbrochen "direkte Demokratie" spielen, sondern man muss Meinungen zu abstimmbaren Alternativen komprimieren. Ich kann nicht 17 verschiedene Varianten haben, wie ich die Landesverteidigung organisiere, oder 700 oder 7000. Ich kann allenfalls sagen: Wir entscheiden uns jetzt zwischen Berufsheer und Wehrpflicht.
HAIPL: Für Heinz Fischer gibt es außerdem eine moralische Verpflichtung für den Klubzwang: die Abgeordneten haben sich mit einem Wahlprogramm zusammengetan, damit beim Wahlvolk beworben und sie wurden dafür gewählt. Deshalb sollten sich die Abgeordneten auch den Zielen aus dem Wahlprogramm und damit den Wählern verpflichtet fühlen. ABER, natürlich gibt es ein Aber. Auftritt: Tada, das freie Mandat. Das freie Mandat bedeutet, dass die Abgeordneten in ihrer Tätigkeit an keinen Auftrag gebunden sind. Sie sollen frei und unabhängig ihre Meinungen bilden und Entscheidungen treffen können. Also alles freier Wille? Antiautoritärer Parlamentarismus? Was ist denn jetzt mit dem Zwang? Der ehemalige Bundesrat Herwig Hösele hat aber eine Lösung für diesen Konflikt:
Herwig HÖSELE: Das freie Mandat ist verfassungsrechtlich existent, das freie Mandat kann auch ausgeübt werden. Man wird das freie Mandat aber nur dann ausüben, wenn es wirklich um einen großen Gewissenskonflikt geht. […] Ich mag nicht das Wort "Klubzwang". Wenn ich nicht eine Partnerschaft habe und manchmal Kompromisse schließen muss, die ich nicht schätze, nicht sehr schätze, aber dafür mein eigenes Anliegen in einer anderen Materie durchbringen will, brauche ich Partner. Weil sonst habe ich 183 Einzelabgeordnete, und es ist eigentlich nie voraussehbar, was man erreicht. Der parlamentarische Prozess lebt ja auch davon, Kompromisse zu schließen, und ich glaube, die Demokratie lebt davon, dass man Kompromisse schließt.
HAIPL: Wer gibt, dem wird gegeben. Der Kompromiss ist also die Lösung. Und die Antwort darauf, warum es so selten Abweichler bei Abstimmungen gibt. Es gibt aber noch eine andere: Die Meinungsverschiedenheiten und Kompromisse werden bereits vorher in den Klubs verhandelt. Dafür gibt der ehemalige ÖVP-Abgeordnete Herbert Kohlmaier einen guten Grund.
KOHLMAIER: Die Leute, die oft ein bisschen unreflektiert über den Klubzwang schimpfen, bedenken nicht, was es für einen Eindruck machte, wenn immer wieder in den Parteien die Leute unterschiedlich abstimmen. Da würden sie sagen: Die sollen sich doch einmal einigen! [Wozu] habe ich denn den Verein gewählt, wenn sie jetzt nicht einmal wissen, was sie machen wollen?
HAIPL: Und ein Beispiel hat Herr Kohlmeier aus seiner Zeit als Nationalratsabgeordneter auch parat:
KOHLMAIER: Es ging um die Gurtenpflicht im Auto – ein ganz banales Beispiel. Ich als Sozialversicherungsmensch, der Unfallakten bearbeiten musste und Gesundheitsstatistiken und Gesundheitskosten, habe im ÖVP-Klub, als wir darüber gesprochen haben, gesagt: Die Gurtenpflicht ist absolut gerechtfertigt und notwendig. Was damit Kosten vermieden werden und Leid vermieden wird! Es ist nicht meine persönliche Sache, ob ich bei einem Unfall schwer verletzt werde oder zu Tode komme, das betrifft auch meine Familie, die Gemeinschaft, meinen Dienstplatz und so weiter. Und der Fritz König, den ich sehr schätze, war der Meinung, das ist ein unzulässiger Eingriff in die persönliche Entscheidung. Und wir haben gestritten – nicht bös‘, aber wir haben Argumente ausgetauscht. Dann ist abgestimmt worden: Mehrheit für die Gurtenpflicht. Natürlich hat der König dann auch dafür gestimmt.
HAIPL: Wie geschlossen eine Partei auftritt, beeinflusst auch die Wahrnehmung der Partei von außen. Und da will sich natürlich keiner selbst benachteiligen. Der Klubobmann hat übrigens die Aufgabe, den Klub auf eine Linie zu bekommen und eventuelle Abweichler doch noch umzustimmen. Vergleichbar ist das mit der Funktion der oder des Whip im englischen oder amerikanischen Parlament. Der Whip sorgt für die Fraktionsdisziplin und seine Jobbezeichnung kommt vom englischen Wort für Peitsche. Na endlich, also doch Zwang. Peitsche. Tschack! Also da schimmert zumindest doch ein bisschen Zwang durch. Gründe zum Abweichen gibt es dennoch viele. Vorne weggetragen wird natürlich das reine Gewissen. Das ist ja die eigentliche Idee des freien Mandats. Allerdings ist sich der ehemalige Präsident des Nationalrats Andreas Khol da nicht so sicher und möchte den Ball flach halten.
Andreas KHOL: Die heroisierende Betrachtungsweise sagt: großartig, keine Klubdisziplin! Also: dieser dumpfe Fraktionszwang! Gott sei Dank gibt es Leute, die ihre eigene Meinung vertreten und sich nicht vom Klubobmann niederbügeln lassen! Der Großteil derjenigen, die die Klubdisziplin nicht einhalten, machen das, weil ihnen der Landesparteiobmann gesagt hat: Wir Steirer machen etwas anderes! Wir Tiroler machen etwas anderes! Die Westachse macht etwas anderes! Das heißt, da geht es dann um Machterhalt. Da geht es um die eigene Position.
HAIPL: Manchmal stehen eben ganz andere Interessen hinter dem Abweichen vom Klubzwang. Die regionale Zugehörigkeit kann ein solches Interesse sein. Klubzwang also ist nicht immer Zwang, sondern eher Strategie. Jeder kann frei entscheiden. Außerdem gibt es auch verschiedene Abstufungen, seinem freien Mandat Ausdruck zu verleihen: An der Abstimmung nicht teilnehmen, sich enthalten und in der stärksten Form eben gegenteilig abstimmen. Matthias Strolz ist ehemaliger NEOS-Abgeordneter und Klubobmann. Daher weiß er auch, dass man da auch mit den eigenen Abgeordneten verhandeln kann.
STROLZ: Als Klubobmann würdest du versuchen, einen Abgeordneten in den gewaltfreien Schwitzkasten zu nehmen, und sagen: Hey, das ist unsere Position. Das leitet sich ab von unserem Programm. Das haben wir in Millionen Stunden ehrenamtlich entwickelt gemeinsam. Diese Position haben wir sogar damals verhandelt, ich kann mich erinnern, das war in Salzburg nachts um zwölf, wir mussten extra verlängern: Willst du es nicht mittragen? Vielleicht würden wir sogar sagen, wenn er sagt: "Na, ich trag’s nicht mit, weil ich seh das anders, ich schlaf noch mal drüber", vielleicht bist du grade sehr beschäftigt bei der Abstimmung?! Grade im Klo oder irgendwo. Das ist so ein Hinfühlen. Will er die andere Meinung öffentlich positionieren, dann wird er vorher am Klo sein, nicht während der Abstimmung, dann ist es ihm ja ein Anliegen.
HAIPL: Die Toilette. Oft unterschätzter Ort gelebter österreichischer Demokratie. Egal. Welcher Grund auch immer dahinter steckt, sich zu enthalten oder anders zu stimmen, die letzte Frage, die sich stellt, heißt: Was passiert eigentlich, wenn ein Abgeordneter dann doch mit der Karte des freien Mandats den Klubzwang sticht? Christian Brünner wurde, ohne der ÖVP anzugehören, auf ihrer Liste in den Nationalrat gewählt. Dort hat er mehrfach sein freies Mandat geltend gemacht. Bei einigen Abstimmungen hat er den Saal verlassen, beim Gentechnikgesetz hat er sogar gegen den Klub gestimmt. Direkte Sanktionen gab es für den Abweichler nicht. Das wäre ja auch nicht rechtens. Aber…
Christian BRÜNNER: Wenn ich nach so einem Eklat – oder wie auch immer – durch die Klubräume gegangen bin, war, dass mich die Kolleginnen und Kollegen anschauen, wenn ich vorbeigehe, und sich vielleicht denken: Da ist er jetzt, der Verräter! Also auf dieser psychischen Ebene. Und so funktioniert ja meines Erachtens auch der Klubzwang. Die Leute glauben vielleicht, da steht einer mit der Pistole und sagt: Du musst! Nein, sondern es ist so, dass man doch signalisiert: Ja, musst du das denn tun? Das ist doch parteischädigend! Bis hin: Du bist keiner mehr von uns! Ohne, dass das jemand ausgesprochen hat.
HAIPL: Und wer nicht ordentlich mitspielt, der kann auch damit rechnen, bei der nächsten Wahl gar nicht oder nicht so weit oben auf der Liste zu landen. Sanfter Zwang. Der ehemalige Abgeordnete Heribert Steinbauer fasst den Klubzwang ohne Peitsche und Zwang mit einer Fußballmetapher zusammen.
Heribert STEINBAUER: Die elf da müssen gegen die elf anderen geschlossen auftreten und können nicht auf einmal der zwölfte Mann für die andere Mannschaft werden. Da muss wirklich eine Ausnahmesituation sein. Und von daher ist die Klubdisziplin wichtig.
HAIPL: Toiletten, Fußball und was noch so alles zur Politik gehört. Das war "Geschichten aus dem Parlament". Ich kann Sie natürlich nicht zwingen, aber ich empfehle Ihnen, diesen Podcast zu abonnieren. Das geht zum Beispiel dort, wo Sie gerade zuhören. Damit gehen Sie sicher, dass Sie die nächste Folge nicht verpassen. Die erscheint in zwei Wochen. Außerdem habe ich noch eine Bitte an Sie: Wenn Ihnen die Folge gefallen hat, dann empfehlen Sie "Geschichten aus dem Parlament" an eine Person weiter, bei der Sie glauben, dass der der Podcast auch gefallen würde. Ohne Zwang und ohne Peitsche natürlich.
Damit verabschiede ich mich herzlich. Mein Name ist Clemens Haipl. Vielen Dank fürs Zuhören. Bis bald!
Jingle: Geschichten aus dem Parlament.