Welche Rolle spielten jüdische Abgeordnete zwischen 1861 und 1938?
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Jüdische Abgeordnete haben den Parlamentarismus in Österreich seit dessen Anfängen mitgestaltet und in dieser Folge sehen wir uns an, welche Rolle jüdische Abgeordnete im Parlament eingenommen haben.
Ein wesentlicher Aspekt dabei ist der wachsende Antisemitismus, den man auch anhand der Reden im Parlament sehen kann. Wir sehen uns an, wie die jüdischen Abgeordneten mit dem Hass, der ihnen entgegengebracht wurde, umgegangen sind und wie sie sich mit geschickten Reden und Humor dagegen gewehrt haben.
Dafür sprechen wir mit zwei Historikern, die sich intensiv mit der Geschichte der jüdischen Abgeordneten auseinandergesetzt haben.
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© Parlamentsdirektion/Satzbau/hoerwinkel
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Katharina BRUNNER: Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von "Parlament erklärt" – Der Podcast, der Sie mitnimmt auf eine Reise durch das österreichische Parlament. Mein Name ist Katharina Brunner.
David RIEGLER: Und ich bin David Riegler. Heute gehen wir zurück in die frühen Jahre des österreichischen Parlamentarismus, um uns anzusehen, welche Rolle jüdische Abgeordnete im Parlament gespielt haben. Wir beschäftigen uns auch damit, wie der wachsende Antisemitismus in der Ersten Republik die Diskussionen im Parlament verändert hat.
BRUNNER: Die Geschichte von Jüdinnen und Juden im österreichischen Parlamentarismus ist mittlerweile gut dokumentiert. Eine Gruppe von Politikwissenschaftlern hat sich ausführlich durch die Archive gearbeitet, um so herauszufiltern, welche Beteiligung jüdische Abgeordnete am österreichischen Parlamentarismus hatten.
RIEGLER: Einer, der über mehrere Jahre in diesem Forschungsfeld gearbeitet hat, ist der Politikwissenschaftler Matthias Falter. Am Anfang seiner Forschung stand die Frage: Was bedeutet der Begriff jüdisch und wer beschreibt sich selbst als jüdisch?
Falter: Ich glaube, dass es da nicht nur um Religion geht , weil sehr viele Abgeordnete sich gar nicht als so stark religiös verstanden haben. Jüdisch kann einerseits eine Selbstbeschreibung sein, es ist andererseits in stark antisemitisch geprägten Debatten eine Fremdzuschreibung.
BRUNNER: Schon während der Revolutionsjahre 1848 und 1849 waren zahlreiche jüdische Politiker an den Versuchen beteiligt, eine bürgerliche Verfassung und parlamentarische Vertretung zu etablieren. Kaiser Franz Joseph erließ 1861 das "Februarpatent", also die Verfassung der Monarchie. Damals gab es im Abgeordnetenhaus des Reichsrats allerdings nur zwei Vertreter des österreichischen Judentums, nämlich Simon Winterstein und Ignaz Kuranda.
RIEGLER: Dies änderte sich einerseits mit der Erlassung der "Dezemberverfassung", die das Parlament gegenüber dem Kaiser aufwertete und andererseits mit der formalen Gleichstellung österreichischer Juden 1867. Durch das neue Staatsgrundgesetz wurden höhere Bildung und vorher verschlossene Berufszweige geöffnet und die jüdische Bevölkerung gesetzlich gleichgestellt.
BRUNNER: Zuvor gab es zahlreiche Berufsverbote für Juden in der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Nicht verboten war der Bereich Handel und Gewerbe, was erklärt, warum im Abgeordnetenhaus während der Monarchie ein großer Teil der jüdischen Abgeordneten Wirtschaftstreibende waren. Die meisten von ihnen waren Teil der liberalen Fraktion, die besonders das Interesse von Handel und Gewerbe im Blick hatte. Der relativ hohe Anteil jüdischer Abgeordneter in den deutsch-liberalen Fraktionen wurde von Antisemiten häufig zum Anlass genommen, um "das Judentum" als Symbol für Säkularisierung, Kapitalismus, Parlamentarismus und Liberalismus anzugreifen.
Falter: Da ist sozusagen ein Ausdruck des Antisemitismus, dass Juden und Jüdinnen quasi als verantwortlich für Modernisierung gesehen werden, als diejenigen, die die alte, vermeintlich gute Gesellschaft zerstören würden und quasi eine neue Gesellschaft oder eine neue Form von Wirtschaft mit sich bringen würden. Und durch diese ganz starke Personalisierung von Gesellschaft, die an sich falsch ist, aber sehr wirkmächtig ist, erneuert sich der alte christliche Antijudaismus und wird zum modernen Antisemitismus, wo Jüdinnen und Juden für alles Übel in der Welt verantwortlich gemacht werden.
RIEGLER: 1885 konnten deutsch-nationale Antisemiten vier Mandate erlangen, wobei Antisemitismus nicht auf diese Fraktion beschränkt blieb. Der Ton bei den parlamentarischen Debatten änderte sich und jüdische Abgeordnete wurden teils massiv beschimpft.
Falter: Das waren Debatten, die teilweise sehr explizit geführt wurden. Es gibt natürlich auch subtilere antisemitische Angriffe, aber man muss sich diese Debatten schon als teilweise sehr wüste Debatten mit expliziten antisemitischen Angriffen gegenüber Abgeordneten vorstellen.
BRUNNER: Die antisemitischen Bilder reichten vom "jüdischen Spekulanten", der mit kapitalistischer Ausbeutung verbunden wurde, bis zum "jüdischen Hausierer", der Armut und Krankheit verbreiten würde. Die Juden als Feindbild wurden zum parlamentarischen Alltag.
RIEGLER: Jüdische Abgeordneten begegneten den Angriffen einerseits mit Fakten, indem sie zum Beispiel die falschen Vorurteile wiederlegten, andererseits nutzten sie aber auch Ironie und Witz. Als der Abgeordnete Ernst Schneider dem Jüdischnationalen Benno Straucher zurief "Ruhig, Jud!", sagte Straucher: "Schweigen Sie, Christ! Sie sind auch nur ein Neujud!"
BRUNNER: Durch die veränderte politische Situation, bei der die liberalen Fraktionen Stimmen zugunsten der Nationalen verloren haben, hofften viele liberale Abgeordnete auf ein Bündnis mit den deutschnationalen Fraktionen, um Mehrheiten zu bekommen. Um in der Gunst der Deutschnationalen zu steigen, distanzierte sich die liberale Fraktion langsam von ihren jüdischen Mitgliedern. So verlor das liberale jüdische Bürgertum seine politische Heimat. Auch die Christlich-Soziale Partei bot jüdischen Abgeordneten keinen Platz, denn sie hatte in den Führungsrängen einige überzeugte Antisemiten, zum Beispiel Karl Lueger. Er war von 1897 bis 1910 Wiener Bürgermeister und rief in Reden mehrfach dazu auf, dass sich das christliche Volk aus der Vorherrschaft des Judentums befreien müsse. Adolf Hitler bezeichnete ihn später als eines seiner politischen Vorbilder.
RIEGLER: Generell waren die Fraktionen am Ende des 19. Jahrhunderts im Umbruch. Neue Strömungen haben sich zu Parteien vereint, zum Beispiel die Sozialdemokratie, wo jüdische Abgeordnete kandidieren konnten. Immer wieder gab es auch Einzelkämpfer, die ihre Stimme im Abgeordnetenhaus nutzten, um offen gegen Antisemitismus aufzutreten, zum Beispiel Samuel Bloch, der nicht nur Abgeordneter war, sondern auch Rabbiner und Herausgeber der Zeitung "Österreichische Wochenschrift".
BRUNNER: Samuel Bloch hat nicht nur in seiner Zeitung und im Parlament gegen Antisemitismus gekämpft, sondern sogar einen Prozess der Ehrenbeleidigung vor Gericht gewonnen. Ihm gegenüber stand der Universitätsprofessor und Antisemit August Rohling. Der Historiker und Forscher Dieter Hecht hat sich als Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften intensiv mit Samuel Bloch und dem Prozess gegen Rohling beschäftigt:
Dieter Hecht: Über diese Klage ist es Bloch gelungen, dass Rohling nicht nur den Prozess verlor, sondern, dass er auch seine Professur verlor, wegen des Meineids, den er geleistet hat. Die Auseinandersetzung ging darum, dass Bloch schon zuvor behauptete, dass Rohling, der immer wieder angab, ein Experte für den Talmud zu sein und zu wissen was da alles Negatives drinstünde, gelang es Bloch nachzuweisen, dass Rohling den Talmud nicht richtig lesen kann und seine Aussagen deshalb auch falsch sind. Im Zuge dieses Prozesses musste er dann zurücktreten und auch seine Professur aufgeben.
RIEGLER: Bloch ist damit aktiv gegen Vorurteile vorgegangen und hat auch im Parlament immer wieder seine Stimme gegen Antisemitismus erhoben. Doch es gab nicht nur Einzelkämpfer, die sich gegen Antisemitismus engagiert haben:
BRUNNER: 1906 wurde die Jüdisch-Nationale Partei gegründet und setzte sich bei der Wahl 1907 für Abgeordnete ein, die sich persönlich verpflichteten, "jüdische Interessen" im Reichsrat zu vertreten. In der Legislaturperiode von 1907 bis 1911 kam es zur Konstituierung eines "Jüdischen Klubs", der aus vier Abgeordneten bestand. Dieter Hecht kennt die Biografien der Abgeordneten des jüdischen Klubs.
Dieter Hecht: In unserem Fall waren das vier Abgeordnete. Drei aus Galizien und einer aus der Bukowina. Die aus Galizien, das war: Heinrich Gabel, das war ein Rechtsanwalt, der dann leider schon während der Periode, also 1910 verstarb. Es war Arthur Maler, der unter anderem auch an der Universität Prag lehrte und der Journalist Adolf Stand. Das waren die drei Politiker, die in ihren Wahlkreisen in Galizien gewählt wurden und dann im Reichstag für die jüdisch nationale Partei sich zum Jüdischen Klub zusammenschlossen gemeinsam mit Benno Straucher aus der Bukowina. Benno Straucher war nicht nur in dieser Periode im jüdischen Klub, sondern war dann nach dem Zerfall der Monarchie 1918 wieder Abgeordneter. Und zwar war er der erste jüdische Abgeordnete in Rumänien.
RIEGLER: Von 1907 bis 1918 schafften es also einige Vertreter des Nationaljudentums in den Reichsrat. Neben der Vertretung vielfältiger regionaler Interessen, setzten sich die jüdischnationalen Abgeordneten gegen Antisemitismus und für die Anerkennung von Juden und Jüdinnen als Nationalität ein.
BRUNNER: Der Zusammenbruch der Monarchie, die Errichtung einer demokratischen Republik und die Folgen des Ersten Weltkrieges veränderten jüdische Partizipation im österreichischen Parlament. Wachsende Verarmung und prekäre Arbeitsverhältnisse führten viele jüdische WählerInnen zur Sozialdemokratie.
RIEGLER: Die Sozialdemokratie bot Juden und Jüdinnen außerdem die einzige Möglichkeit auf eine politische Karriere, da alle anderen parlamentarischen Kräfte mehr oder weniger antisemitisch ausgerichtet waren.
BRUNNER: Eine wichtige Veränderung in der Ersten Republik war das eingeführte Frauenwahlrecht. Es ermöglichte sogar zwei jüdischen Frauen den Einzug in das Parlament: Die zum Katholizismus konvertierte Hildegard Burjan für die christlich-soziale Fraktion und Therese Schlesinger für die Sozialdemokraten.
Dieter Hecht: Therese Schlesinger war nicht nur eine Politikerin, sie war Sozialdemokratin, sondern sie war auch eine Feministin und eine langjährige Aktivistin. Bevor Therese Schlesinger Sozialdemokratin wurde, hat sie sich schon in der österreichischen Frauenbewegung viele Jahre engagiert, war allgemein im österreichischen Frauenbund und hat ab 1900, 1902 sich verstärkt für die Sozialdemokratie engagiert. Von 1919 bis 1923 ist sie Abgeordnete im Nationalrat, wechselt dann bis 1930 in den Bundesrat, scheidet dann aus und während des Austrofaschismus zieht sie sich dann zurück, bleibt aber in Österreich oder konnte bleiben, muss man sagen, und flüchtet dann nach dem "Anschluss" nach Frankreich, wo sie dann 1940 in einem Sanatorium stirbt.
RIEGLER: Ein viel diskutiertes Thema im Parlament der Ersten Republik waren die Kriegsflüchtlinge. Ein Teil der geflüchteten Menschen, der nach dem ersten Weltkrieg aus dem Ostteil der Habsburger-Monarchie nach Österreich gekommen sind, waren jüdisch. Das veranlasste Antisemiten im Parlament massiv gegen jüdische Geflüchtete zu hetzen.
BRUNNER: Manchmal reichten aber auch schon kulturelle Ereignisse, um eine antisemitische Rede im Parlament zu provozieren. Matthias Falter nennt ein Beispiel dafür: Der Wien-Besuch der US-amerikanischen Sängerin Josephine Baker, deren Vater Jude war.
Falter: Auf jeden Fall in den 1920er Jahren kam Josephine Baker nach Wien und das war für deutschnationale und konservative christlich-soziale Abgeordnete ein Anlass wo antisemitische Argumentationen sichtbar wurden, beziehungsweise wo ein antisemitisches Weltbild sichtbar wurde.
RIEGLER: Dieses antisemitische Weltbild konnte man im Parlamentarismus der ersten Republik immer wieder entdecken. Durch die Machtübernahme der autoritären "Ständeregierung" 1933 wurde das parlamentarische System Österreichs ausgehebelt. Doch auch wenn die ständestaatliche Verfassung Religionsfreiheit und Bürgerrechte für Jüdinnen und Juden vorsah, war Antisemitismus in Politik und Gesellschaft alltäglich.
BRUNNER: Die Vertreibung und Ermordung der österreichischen Juden durch das nachfolgende nationalsozialistische Regime beendete die jahrzehntelange Beteiligung jüdischer Politiker am parlamentarischen Geschehen in Österreich. Viele jüdische Abgeordnete sind ins Exil geflüchtet, andere wurden im KZ ermordet.
RIEGLER: Die Geschichte der Jüdinnen und Juden im österreichischen Parlament zeigt auf tragische Weise, wie sich Antisemitismus in allen Bereichen der Gesellschaft ausgebreitet hat – auch im parlamentarischen System. Laut Matthias Falter mahnt die Geschichte auch, wie wichtig es ist, welche politische Kultur gelebt wird.
Falter: Eine Haupterkenntnis ist, dass man immer skeptisch gegenüber Politikmodellen sein muss, die einerseits eine große Bedrohung imaginieren und andererseits durch diese Vorstellung von Bedrohung auch eine Gruppe von Menschen als "andere" kennzeichnen, als Verantwortliche markieren und damit auch den Weg für weitere Formen von Exklusion und Verfolgung ebnen.
BRUNNER: An der Geschichte der jüdischen Abgeordneten sieht man, wie rasch eine Kultur der Hetze und Feindbilder entstehen kann. Demokratie und Parlamentarismus sollten aber eine Kultur des Zuhörens und miteinander Redens stärken.
RIEGLER: Liebe Hörerinnen und Hörer. Mit dieser Erkenntnis sind wir am Ende der Folge angelangt.
BRUNNER: Haben Sie Themen, die wir unbedingt in diesem Podcast behandeln müssen? Oder möchten Sie uns Feedback geben? Schreiben Sie uns unter podcast@parlament.gv.at.
RIEGLER: Wir bedanken uns, dass Sie wieder mit dabei waren.
BRUNNER: Alles Gute und bis zum nächsten Mal!