75 Jahre danach – Gründung der Zweiten Republik
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Diese Podcastfolge steht ganz im Zeichen des 75. Geburtstages der Zweiten Republik von Österreich. Dabei schildern uns die drei Zeitzeugen Carl Reissigl, Wanda Brunner und Anton Nigl ihre Erlebnisse aus dieser ereignisreichen Zeit rund um das Ende des Zweiten Weltkrieges.
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Karl RENNER: Die demokratische Republik Österreichs ist wiederhergestellt und im Geiste der Verfassung von 1920 einzurichten. Der im Jahre 1938 dem österreichischen Volk aufgezwungene Anschluss ist null und nichtig. Zur Durchführung dieser Erklärung wird unter Teilnahme aller antifaschistischen Parteirichtungen eine provisorische Staatsregierung eingesetzt und vorbehaltlich der Rechte der besetzenden Mächte mit der vollen Gesetzgebungs- und Vollzugsgewalt betraut. Von diesem Tage an stehen alle Österreicher wieder im staatsbürgerlichen Pflicht- und Treueverhältnis zur Republik Österreich. Wien, den 27. April 1945.
KÖHLER: Es ist der 27. April 1945, als ein ganz neues Kapitel in der Geschichte Österreichs aufgeschlagen werden soll. Zwar ist die Tatsache des "erzwungenen Anschlusses" heute widerlegt und Teil des österreichischen Opfermythos. Trotzdem liegen 12 Jahre Ständestaatsdiktatur und NS-Faschismus hinter dem Land, fast sechs Jahre Krieg, die Städte liegen in Schutt und Asche und viele haben ihre besten Freunde und ihre liebsten Verwandten verloren.
GASSNER-SPECKMOSER: Am 27. April 1945 wurde unter Vorsitz Karl Renners eine provisorische Regierung eines eigenständigen Staates eingesetzt. Der Krieg war damit in unserem Land de facto beendet, und fünf Monate später wurde das erste Mal wieder demokratisch gewählt. Es ist der Beginn der Zweiten Republik Österreichs.
KÖHLER: Liebe Hörerinnen, liebe Hörer, herzlich Willkommen zur letzten Folge von "Parlament Erklärt" im Jahr 2020. Mein Name ist Diana Köhler.
GASSNER-SPECKMOSER: Und ich bin Tobias Gassner-Speckmoser. Heute wollen wir die Chance noch einmal nutzen und uns diesem speziellen Jubiläumsjahr widmen. Denn vor 75 Jahren wurden die Grundsteine für unsere heutige Republik gelegt. Doch wie war das damals? Wie ging es den Menschen 1945?
KÖHLER: Wir haben mit drei Menschen gesprochen, die dabei waren, und haben sie gefragt, wie sie die damalige Zeit erlebt haben.
***** JINGLE *****
Carl REISSIGL: Durch eine Vereisung bei einem Schneesturm ist die Enteisungsanlage ausgefallen, und dadurch ist die Steuerung des Flugzeuges praktisch havariert gewesen. Und ich bin 10 Tage, nachdem ich das Flugzeug bestiegen hatte, in einem Zimmer mit weißer Decke aufgewacht.
KÖHLER: Der Mann, den sie gerade gehört haben, heißt Carl Reissigl und ist heute 95 Jahre alt. Damals, 1944, war er gerade einmal 19 Jahre alt und Flugzeugführer bei der deutschen Wehrmacht, als er an besagtem Tag abgestürzt ist.
GASSNER-SPECKMOSER: 1944, das war jenes Jahr, in dem der Pakt aus Deutschland, Italien und Japan bereits stark geschwächt war. Die Alliierten haben Teile des besetzten Gebietes wieder befreien können. Das Deutsche Reich befand sich schon seit einem Jahr im sogenannten totalen Krieg. Das heißt, alle Ressourcen des Landes, besonders auch alle menschlichen, sind im Krieg eingesetzt worden. Da mussten auch sehr junge und auch ältere Menschen als Soldaten einrücken.
KÖHLER: So auch Herr Reissigl. Nach seinem Absturz lag der damals 19-Jährige einige Monate im Lazarett, er musste seine vielen Brüche und Wunden heilen.
GASSNER-SPECKMOSER: Doch dann wendet sich sein Blatt erneut, erzählt er heute: Die Alliierten hatten es geschafft, die Deutschen immer weiter zurückzudrängen. Die Rote Armee ist bis an die Tore Berlins gekommen.
KÖHLER: Und dann, im April 1945, erhielt Carl Reissigl den Marschbefehl. Er musste wieder an die Front.
REISSIGL: Und da war ich dann drei Wochen sozusagen beim Großangriff der Russen auf Berlin auf ständiger Tuchfühlung mit Hauptkampflinie und kam dann letztendlich in Schwerin durch Erschöpfung sozusagen nicht mehr weiter und hatte das große Glück, dass die Amerikaner einmarschiert waren und die Russen bis in den Stadtraum kamen.
GASSNER-SPECKMOSER: Herr Reissigl kommt daraufhin wieder ins Lazarett. Dieses Mal aber nicht für lange. Schon wenige Wochen später muss er schon wieder an die Front. Doch dieses Mal sollte es das letzte Mal sein.
REISSIGL: Und dann machten wir uns schwach und schlecht gehfähig, aber doch auf den Weg, und erreichten dann sozusagen die Elbe, Schleswig-Holstein, Putlos, nördlich von Hamburg. Und wurden dann als österreichische Gefangene der französischen Zone nach Ostfriesland überstellt.
KÖHLER: Er wurde gefangen genommen und als Kriegsgefangener fast ein Jahr eingesperrt. Nach Österreich sollte er erst im Jänner 1946 zurückkehren. In dieser Zeit ging es seinen Eltern wie vielen: Sie wussten nicht, ob ihr Sohn noch lebt oder schon tot ist.
REISSIGL: Nein, nix, nix. Ich habe die Suchkarte des Roten Kreuzes bei mir vorrätig. Sie kam am 20. Dezember 1945 in Innsbruck bei den Eltern an. Da erfuhren sie das erste Mal, dass ich noch am Leben war. Und da waren nur 10 Worte zulässig, zu schreiben. Wo eben stand "ich befinde mich in englischer Kriegsgefangenschaft, bin gesund".
GASSNER-SPECKMOSER: In der Zeit, als Carl Reissigl in Norddeutschland gekämpft hat und dann gefangen genommen wurde, ist auch im ehemaligen Österreich viel passiert. Die Rote Armee ist auch hier immer näher gekommen. Der Krieg wurde immer aussichtsloser. Städte wurden zerbombt, darunter auch Wien.
KÖHLER: Wanda Brunner, damals gerade einmal 14 Jahre alt, war während dieser Zeit in einem so genannten "KLV-Lager" in Kärnten untergebracht. Die Kinderlandverschickungslager, wie sie korrekt geheißen haben, waren Lager, in denen Kinder und Frauen im Zweiten Weltkrieg untergebracht wurden, um etwas weiter vom Geschehen weg zu sein.
GASSNER-SPECKMOSER: Dass der Krieg 1945 bald ein Ende haben würde, das wusste in den KLV-Lagern insgeheim jeder, sagt sie. Obwohl man offiziell keine Neuigkeiten erfahren durfte.
BRUNNER: Ja natürlich, natürlich, man hat das ja verfolgt. Zu der Zeit ist ja schon offiziell so geredet worden. Nicht offiziell in den Klassen, aber privat. Und so hat man das Ende schon vorausgesehen. Es war doch wirklich niemand so dumm, dass er das nicht mitbekommen hat, wie weit die Soldaten von den Siegermächten bereits in Europa, oder in Deutschland oder in Österreich, schon fortgeschritten waren.
KÖHLER: Auch wenn sich diese Erzählung von Wanda Brunner hoffnungsvoll und etwas lustig anhört, war die Zeit in diesen KLV-Lagern auf keinen Fall ein Spaß. Als wir Frau Brunner danach fragen, antwortet sie folgendes:
BRUNNER: Wir haben die Verdunkelung gehabt, wir haben am Abend kein Licht gehabt, ja? Wir haben nirgendwo Licht haben dürfen, das war die Verdunkelung. Man durfte nicht hinausgehen, man hat nichts mehr zu essen gehabt, man hat alle Tage ein paar Stunden, was weiß ich, in den Luftschutzkellern, in den Bunkern verbringen müssen. Hallo? Das war ja auch nicht gerade das Angenehmste, auch wenn man noch nicht in dem Alter war, wo man weiß Gott für Sorgen hatte.
GASSNER-SPECKMOSER: Im März 1945 war es dann so weit. Die Rote Armee hat österreichischen Boden betreten.
KÖHLER: Alles, was danach geschehen ist, ist schnell gegangen. Die Truppen haben Österreich besetzt, das deutsche Reich ist vor der Niederlage gestanden. In Österreich haben sich die ersten nicht-faschistischen Parteien wiedergegründet. Die ÖVP, KPÖ und die SPÖ. Am 27. April 1945 wurde in Österreich eine provisorische Regierung unter Karl Renner eingerichtet. Nur drei Tage bevor Adolf Hitler sich in seinem Bunker erschossen hat.
GASSNER-SPECKMOSER: Nachdem es Wanda Brunner aus dem KLV-Lager zurück nach Innsbruck geschafft hat, wurde ihr Haus zunächst von jungen amerikanischen Soldaten beschlagnahmt. Die waren aber entgegen ihren Erwartungen wirklich sehr, sehr nett, erinnert sie sich.
BRUNNER: Wir mussten alle aus unseren Häusern heraus, denn die haben die Amerikaner beschlagnahmt für ihre Soldaten. Wir hatten das Glück, dass mehr oder weniger eine junge Kompanie bei uns Station machte, und wir konnten auf unserem Dachboden die ersten Nächte verbringen. Und immer am Abend, wenn wir alle am Dachboden oben waren, dann sind die amerikanischen Soldaten hergekommen, haben die Leiter weggezogen und die Nachtwache geschoben, damit ihnen ja nichts passiert. Sie durften uns aber an Lebensmittel nichts geben, das war streng verboten, haben aber wirklich sehr, sehr human gearbeitet. Wir haben einen Garten, und da sind sie hergekommen und haben – sie kennen ja die Rhabarberblätter, die Großen – die haben sie auf den Misthaufen, den Komposthaufen gelegt, und da drauf haben sie dann Brot oder Konserven gelegt, sodass wir das dann holen konnten, aber sie uns dann nicht gegeben haben, weil das war ihnen strengstens verboten.
KÖHLER: Von all dem hat Carl Reissigl nicht viel mitbekommen. Er war ja ab April 1945 in Kriegsgefangenschaft. Er beschreibt das so:
REISSIGL: So unglaublich das klingt, in der Gefangenschaft hatten wir keine Telefonverbindung, keine Briefverbindung, keine Zeitungen. Also wir erfuhren so zufällig, dass Wien von den Russen schon besetzt ist und so weiter. Und da sind wir ja erst nachher noch sozusagen an die Front, an die Oder gekommen. Also, alles was sich in Österreich abgespielt hat, und auch in Tirol, blieb uns verborgen und konnte erst nach dem 12. Jänner 1946 rekonstruiert werden.
GASSNER-SPECKMOSER: Auch Anton Nigl ist es ähnlich ergangen. Er war damals 17 Jahre alt, als er noch am 8. Mai südlich von Prag gefangen genommen wurde, als der Krieg eigentlich schon aus war.
KÖHLER: Nur: Diese Nachricht ist erst gar nicht zu ihm vorgedrungen. Erst in seiner Gefangenschaft hat er davon erfahren.
Anton NIGL: Erst im Stadion von Prag, in dem wir einige Tage, ich glaube fast eine Woche gelegen sind, erst da hat sich das Gerücht herumgesprochen, der Krieg ist aus, in Österreich hat sich eine Regierung zusammengetan. Aber wer und wie und was? Es ist dann einmal ein Name gefallen, der Renner. Aber niemand konnte bestimmt etwas sagen. Es gab ja keine Nachrichten, wir haben ja nichts gehabt!
GASSNER-SPECKMOSER: Sicher sagen konnte man damals gar nichts. Anton Nigl aber hatte Glück: Er wurde mit anderen Jugendlichen aus der Gruppe aussortiert und nach Deutschland überführt, wo er endlich seinen Entlassungsschein bekam. Dass der Krieg tatsächlich aus war, konnte er zunächst gar nicht wirklich glauben.
NIGL: Ja, das war für uns Segen. Wir konnten es ja gar nicht glauben zuerst. Das gibt’s ja nicht, das ist wirklich aus? Und es gibt keine Fliegerangriffe und gar nichts? Das ist wirklich wahr? Ja, das ist wirklich wahr geworden!
KÖHLER: Nach der Entlassung begann für Anton Nigl, so wie für viele andere, der lange Weg zurück nach Hause. Das war für ihn Leoben in der Steiermark. Am Weg dorthin kam er auch durchs zerbombte Wien.
NIGL: Und erst in Österreich habe ich dann erfahren, was wirklich los ist. Denn Wien war zerbombt. Da sind wir vom Nordbahnhof zu Fuß durch Wien marschiert, um zum Süd- und Westbahnhof zu kommen, durch zerbombte Gassen und Straßen haben wir uns durch geschmuggelt. Und erst am Bahnhof haben wir gehofft, dass wir einen Zug erwischen, der Richtung Semmering fährt.
GASSNER-SPECKMOSER: Wieder zurück zu Hause ging es langsam aber sicher wieder in den Alltag zurück. Anton Nigl setzte seine Försterausbildung in Donnersbach Wald in der Steiermark fort und Wanda Brunner ging wieder, wie vor dem Krieg, in die Schule.
KÖHLER: Sechs Monate später ist es besiegelt: Der Krieg ist vorbei. Österreich ist zwar von den Alliierten besetzt aber wieder eine Republik, die erstmals am 25. November wieder demokratisch wählt.
GASSNER-SPECKMOSER: Viele Österreicherinnen und Österreicher haben diese Wahl mit großer Spannung verfolgt. Viele haben sich auch schon politisch engagiert. Wie auch Wanda Brunner, obwohl sie damals noch zu jung zum Wählen war.
BRUNNER: Da war ich schon fest beim Plakatieren mit und habe fest mitgeholfen, neben der Schule, also am Abend. Wir sind schon am Abend plakatieren gegangen, soweit man am Abend noch ausgehen durfte, weil auch bei den Amerikanern dann war auch schon Ausgangssperre am späteren Abend. Wir durften nur eine gewisse Zeit am Abend draußen sein. Ich weiß es noch, dass wir gesagt haben, wenn es langsam dunkel wird, da musste man rein. Es war ja fast lustig damals, weil es gab ja keinen richtigen Kleber! Wie oft uns die Plakate so heruntergefallen sind, die man versucht hat irgendwo anzubringen. Das war ja alles so provisorisch! Das war ja alles nicht so, wie man sich das heute vorstellt.
KÖHLER: Am 19. Dezember 1945 fand schlussendlich die Konstituierende Sitzung des Nationalrates statt. In seiner darauffolgenden Weihnachtsansprache, wendet sich Leopold Figl mit einer Bitte an die Bewohnerinnen und Bewohner Österreichs.
FIGL: Ich kann euch zu Weihnachten nichts geben. Ich kann euch für den Christbaum, wenn ihr überhaupt einen habt, keine Kerzen geben. Kein Stück Brot, keine Kohle zum Heizen, kein Glas zum Einschneiden, wir haben nichts. Ich kann euch nur bitten: Glaubt an dieses Österreich!
KÖHLER: Der Rest ist Geschichte.
GASSNER-SPECKMOSER: Liebe Hörerinnen, liebe Hörer, das war sie, unsere Folge zu diesem ganz speziellen Jahr, dem 75. Geburtstag der Zweiten Republik.
KÖHLER: An dieser Stelle möchten wir uns bei unseren Interviewpartnerinnen und -partnern für ihre Offenheit bedanken. Wanda Brunner, Carl Reissigl und Anton Nigl haben sich für uns ans Jahr 1945 zurückerinnert. Übrigens, waren sie alle zu einem späteren Zeitpunkt in der Geschichte Österreichs staatstragende Politikerinnen und Politiker.
GASSNER-SPECKMOSER: Wanda Brunner etwa war Nationalratsabgeordnete, Carl Reissigl Tiroler Landtagspräsident und Anton Nigl Bundesratspräsident.
KÖHLER: Und unser Dank gilt natürlich auch Ihnen. Dass Sie wieder einmal dabei waren und den Dreien heute zugehört haben.
GASSNER-SPECKMOSER: Bei Anregungen oder Fragen schreiben Sie wie immer an podcast@parlament.gv.at. Das allerletzte Wort wollen wir aber Herrn Anton Nigl überlassen.
KÖHLER: Wir sagen schon einmal auf Wiedersehen und bis nächstes Jahr.
NIGL: Das war mein Weg, und nun bin ich beinahe 93 Jahre alt und denke gerne zurück an viele schöne Zeiten. Es war nicht immer eine siegreiche Zeit, es war ein Auf und Ab in der Politik aber … man erinnert sich natürlich zurück, vergisst nicht. In der damaligen, relativ kurzen Zeit habe ich doch einiges an Erfahrungen mitleiden müssen, was viele andere natürlich auch mussten und leider viele nicht heimgekommen sind.