Wie viele Volksvertreter:innen braucht ein Parlament?
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In dieser Folge gehen wir er Frage nach, wie es zur Anzahl der in Österreich amtierenden Volksvertreterinnen und -vertreter kommt und wie Demokratie in anderen Ländern funktioniert. Dabei hilft uns die Politologin Melanie Sully die sich in letzter Zeit auf den Bereich „Good Governance“ spezialisiert hat.
© Parlamentsdirektion/Satzbau/hoerwinkel
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Melanie SULLY: In den letzten Jahren war eine Diskussion darüber: "Warum brauchen wir so viele Abgeordnete? Könnten wir etwas sparen, könnten wir das wieder verkleinern?". Aber das hätte natürlich Konsequenzen.
Tobias GASSNER-SPECKMOSER: Der Österreichische Nationalrat zählt derzeit 183 Sitze, der Bundesrat 61. Das war aber nicht immer so, und muss, wie wir heute erfahren werden, auch nicht immer so bleiben. Liebe Hörerinnen, Liebe Hörer, Herzlich Willkommen zu einer neuen Folge von Parlament Erklärt, mein Name ist Tobias Gassner-Speckmoser.
Diana KÖHLER: Und ich bin Diana Köhler. In unserer heutigen Folge sprechen wir mit der Politologin Melanie Sully über die Geschichte und die Zukunft des Nationalrats. Sie setzt das Österreichische Parlament in Bezug zu anderen demokratischen Parlamenten und beantwortet uns noch eine Frage: Warum haben wir eigentlich 244 Volksvertreterinnen und -vertreter im Parlament?
***** JINGLE *****
GASSNER-SPECKMOSER: Liebe Frau Doktor Sully, stellen Sie sich doch unseren Hörern und Hörerinnen kurz vor!
SULLY: Ursprünglich komme ich aus Großbritannien und ich habe in Großbritannien studiert, Politikwissenschaft und europäische Studien, und auch an diversen Universitäten gelehrt, bevor ich nach Österreich gekommen bin. Aber eminent seit 1988, zuerst auf der Innsbrucker Universität in Politikwissenschaft, auch auf der Uni in Wien, und dann bei der Diplomatischen Akademie in Wien 18 Jahre Politikwissenschaft, moderne Geschichte et cetera. Jetzt mache ich "Good Governance"-Projekte, im Rahmen des Institutes für "Go Governance", eine Abkürzung für Good Governance. Das ist quasi abgeschlossen und ich setze meine Arbeit in der Politikwissenschaft und der vergleichenden Politik fort.
KÖHLER: Um "Good Governance", also "Gute Regierungs- oder Amtsführung", geht es im weitesten Sinne auch in unserer heutigen Folge. Wie wir wissen, soll das Parlament die jeweilige Regierung im Rahmen der Gewaltenteiliung kontrollieren. Aber wie ist das Parlament in Österreich überhaupt aufgebaut?
SULLY: Es ist ein Zwei-Kammern-System, ein föderalistisches Land, und der Nationalrat, oder die erste Kammer – wobei, man sagt manchmal Unterhaus oder Oberhaus – erste Kammer: Nationalrat, und die zweite Kammer – grob gesagt – Oberhaus: Der Bundesrat.
GASSNER-SPECKMOSER: Der Nationalrat, das "Unterhaus" also, besteht derzeit aus 183 Mitgliedern. Wieso ist das so, und könnte man das auch ändern?
SULLY: Das ist in einem Gesetz festgestellt, in der Nationalratswahlordnung, allerdings ist das ein einfaches Gesetz, das heißt, dass man nur eine Mehrheit brauchen würde, um das umzuändern. Hingegen ist der Bundesrat mit 61 Mitgliedern festgestellt in einem Verfassungsgesetz und eine Änderung würde eine Zweidrittel-Mehrheit benötigen. Das ist festgestellt im Bundesrat im Verhältnis zur Bürgerzahl, das heißt, nach einer Volkszählung ist es durchaus möglich, dass sich diese Zahl ändert. Lange Zeit haben die Mitglieder im Bundesrat 50 ausgemacht, dann waren es 54, und jetzt haben wir 61. Das ist in der Bundesverfassung, daher ist es schwieriger zu ändern.
KÖHLER: Wer entscheidet, wer im Nationalrat, und wer im Bundesrat sitzt?
SULLY: Die Landtagswahlen sind entscheidend für eine Mitgliedschaft im Bundesrat. Und im Nationalrat haben wir ein sehr komplexes System auf drei Ebenen – natürlich, alle fünf Jahre ist Nationalratswahl, oder, wenn eine Koalition platzt, dann früher, was in der Vergangenheit auch irgendwie passiert ist. In Großbritannien haben wir das in einem Gesetz fixiert, dass es alle fünf Jahre stattfinden soll, und es soll nicht so einfach sein, frühzeitig Neuwahlen zu haben, obwohl das auch in der Krise passiert ist. Es ist ein Verhältniswahlrecht in Österreich, im Gegensatz zu Großbritannien, wo es nur einen Abgeordneten pro Wahlkreis gibt. Das ist in Österreich nicht der Fall. Ich glaube, wichtig für ein Wahlsystem ist, dass die Leute es verstehen können und in beiden Fällen, in Österreich und in Großbritannien, ist das nicht immer der Fall. Auch in Deutschland, das ein Mischsystem hat, zwischen einem Wahlkreis und einem Verhältniswahlkreis, mit zwei Stimmen, und die Leute verstehen nicht immer, dass die zweite Stimme wichtiger ist. Also, man muss eigentlich kommunizieren, wie einfach ein Wahlsystem ist, und wie ich meine Stimme optimal verwenden kann. In Großbritannien ist es auf den ersten Blick sehr einfach: Winner takes all. Auch eine Stimme mehr in einem Wahlkreis, und man ist schon gewählt. Also, das ist ganz einfach zu verstehen. Auf der anderen Seite, wie die Rechtslage in Großbritannien ist, ist in so vielen Gesetzen erwähnt, dass sich wirklich niemand auskennt. In Österreich haben wir wie gesagt eine Nationalratswahlordnung, da geht man hin, schaut nach, und alles ist dann schön geschrieben. Und es gibt eine Bundesverfassung. In einem Land wie Großbritannien hat man keine kodifizierte Verfassung und XX-Gesetze, die aus der fernen Vergangenheit stammen: Das ist nicht wirklich praktikabel für die Wähler zu verstehen. Aber im Grunde genommen glaube ich, man hat ein Gefühl, oder der jeweilige Wähler, die jeweilige Wählerin hat ein Gefühl, wie das System funktioniert, grob gesagt. Aber es ist eine völlig andere politische Kultur in Österreich.
KÖHLER: Die österreichischen Wähler entscheiden also im Endeffekt über die Nationalratsabgeordneten. Waren es denn immer schon 183 Abgeordnete?
SULLY: Diese 183, das war nicht immer so. Bis in die Siebzigerjahre waren es 165, bis Bruno Kreisky, der SPÖ-Bundeskanzler, eine Minderheitsregierung geführt hat und die Unterstützung einer kleineren Partei haben wollte, und das Gegengeschäft, wenn Sie so wollen, waren eigentlich mehr Sitze im Parlament, oder im Nationalrat, und dann hätte die kleinere Partei eine bessere Chance. Und es ist so geblieben, obwohl: in den letzten Jahren gab es eine Diskussion darüber: "Warum brauchen wir so viele Abgeordnete? Könnten wir etwas sparen, könnten wir das wieder verkleinern auf 165?". Aber, das hätte natürlich Konsequenzen.
GASSNER-SPECKMOSER: Was für Konsequenzen hätte das denn konkret?
SULLY: Für kleinere Parteien, für die Repräsentanz des Parlaments, wenn man weniger Sitze hat, beispielsweise, ob genauso viele Frauen ins Parlament kommen, weil der Hirschplatz ist oft ein Mann, also dann würde diese Strategie der Parteien, ein bisschen Gleichberechtigung zu kriegen, dass würde auf Kosten einer Frau sein. Also da muss man viele Konsequenzen überlegen, wenn man sagt: "Ich möchte ein kleineres Parlament haben", und überlegen, wofür? Was bringt mir das? Ja, alle müssen sparen, aber im Endeffekt bringt es nicht allzu viel. Der Bundesrat ist, wenn man Kosten betrachtet, eigentlich sehr günstig im Vergleich zu anderen Parlamenten. Also, das war eine Debatte, aber es ist nie zustande gekommen. Es ist auch eine Machtfrage: Wenn ich sage, ich habe weniger Parlamentssitze. Auf Kosten welcher Partei? Wenn Sie das anschauen, dann sagen sie: "Oh, das wollen wir nicht, wir würden nicht so viele Sitze bekommen".
KÖHLER: Wie sieht es damit in anderen europäischen Ländern aus? Gibt es da Überlegungen, die Parlamente zu verkleinern?
SULLY: Es gab auch eine Diskussion in Großbritannien. Wir haben jetzt 650, das ist ein großes Parlament, im Unterhaus, "House of Commons". Es gab in den letzten Jahren immer die Überlegung, das auf 600 oder sogar 500 zu verkleinern. Aber das ist eine Machtfrage: Wenn eine Partei schaut, wir würden nicht so gut dran sein, dann tun sie es nicht. Also, es ist immer fast so geblieben, wie es ist: Status Quo.
GASSNER-SPECKMOSER: Die unpopuläre Gegenfrage muss nun vielleicht auch gestellt werden: Wieso gibt es nicht weitaus mehr Sitze im österreichischen Parlament?
SULLY: Ich glaube, das wäre auch vielleicht in Zeiten wie diesen, wie Kreisky sagen würde, eine Provokation, weil der Sinn der Übung oder der Überlegungen, weniger zu bekommen, war damals, ich glaube es war vor acht Jahren oder so, war aus Kostengründen. Also umgekehrt, daher, mehr Mitglieder im Nationalrat würde eine Provokation, sein für Leute die ohnehin sagen, was machen sie eigentlich, sie sind gut bezahlt, so sehen viele Wähler das. Mehr zu haben, das würde eigentlich, glaube ich, die Akzeptanz der Bevölkerung nicht haben. Und außerdem: Wir haben ein Zwei-Kammern-System, einige Ländern haben nur eine Kammer. Wir haben dann auch die Landtage. Das heißt, wir haben verschiedene Ebenen, Ebenen, wo viele Politiker im Einsatz sind, und noch mehr zu haben, daran wäre glaube ich keine Partei groß interessiert, das zu vertreten. Natürlich würde es unter Umständen mehr Repräsentanz bringen, und wäre besser für kleinere Parteien. Das ist schon klar. Es gibt auch wissenschaftliche, mathematische Kalkulationen: Wie viele brauche ich in einem Land? Eine Theorie ist, es könnte die Kubikwurzel der Bevölkerung sein. Im Falle Österreichs würde das circa 200 ausmachen, also schon mehr, als wir jetzt haben. Aber ich glaube, der Grund ist nicht solide genug, um das umzusetzen.
KÖHLER: Was spricht denn im Gegenzug für eine Verkleinerung des Nationalrats?
SULLY: Das ist schon nach dem zweiten Weltkrieg entstanden, aber es wäre vielleicht eine Überlegung: Es gibt viele Parlamente, die eine gerade Zahl an Abgeordneten haben. Lettland hat 100, das ist leicht zu verstehen. Die Tschechische Republik hat 200, Griechenland hat 300, so könnte es sein. Wir müssen da die ganze Tabelle, zum Beispiel von EU-Ländern, anschauen: Wie viele Bürger, oder Leute, die in Österreich leben oder in einem Wahlkreis, vertritt ein Abgeordneter? Und Österreich liegt mehr oder weniger im Mittelfeld, da kann man nicht sagen, es gibt zu viele oder zu wenige Abgeordnete. Diese Zahl scheint ungefähr für die Bevölkerungszahl zu passen. In Deutschland hat ein Abgeordneter ungefähr 120.000 Bürger zu vertreten, das ist schon viel. In Malta zum Beispiel 7.000. Also, es ist alles dabei, in den EU-Ländern. Es gibt kein System, kein wissenschaftliches System dahinter und diese Zahlen sind dann fix und nicht so einfach zu ändern, weil man eigentlich den politischen Willen braucht. Aber einige Länder haben schon in der letzten Zeit sehr wohl die Zahl der Abgeordneten geändert: Irland zum Beispiel. Die haben früher 166 Abgeordnete gehabt, und haben das auf 160 reduziert. Das ist auch nicht so viel weniger, aber es gab dann Hearings und Begutachtungen und wissenschaftliche Beiträge, und sie haben dann diese Kubikwurzel genommen. Belgien zum Beispiel hat 150 Abgeordnete, aber in einem Gesetz ist auch festgestellt, dass in der Regierung nicht mehr als 15 sein sollen. Also, das ist dann eine andere Überlegung: Wenn ich denke, das eine Hauptaufgabe des Parlaments die Kontrolle der Regierung ist, hängt das davon ab, wie groß die Regierung ist. Wie viele Abgeordnete brauche ich für diese Arbeit? Das könnte auch ein 10 Prozent-Verhältnis sein – wenn wir mehr Regierungsmitglieder haben, dann brauchen wir mehr Abgeordnete. Es gibt dann die Überlegung: Wie viele Ausschüsse hat man? Wie groß sind diese Ausschüsse? Es kommt eigentlich alles zurück zu der Frage: Was macht ein Abgeordneter?
GASSNER-SPECKMOSER: Diese Frage ist oft gar nicht so leicht zu beantworten: Was machen Abgeordnete denn wirklich konkret?
SULLY: Ich glaube eigentlich, dass es auch die Aufgabe eines Abgeordneten ist, zu kommunizieren, was seine oder ihre Aufgaben sind. Manchmal sind die Wähler nicht so sicher, was diese sind, und man hat auch in Großbritannien gefragt und manche Abgeordnete waren auch gar nicht so sicher, was sie machen. Man hat keine Arbeitsplatzbeschreibung. Viele Jobs haben Arbeitsplatzbeschreibungen und es ist ganz klar, was ich machen muss oder nicht. Ein Abgeordneter muss eine Wahl gewinnen. Das ist in erster Linie die Aufgabe, sonst kommt man nicht hin, und soll an und für sich gut reden können, was nicht immer der Fall ist, muss man leider feststellen. Aber die Kontrolle der Regierung und der Gesetzesvorlagen, die im Parlament vorgelegt werden. Es gibt auch in einem Land wie Österreich die EU-Arbeit, natürlich, das ist eine extra Dimension, die dazugekommen ist. Es gibt X E-Mails zu betreuen, die man als Abgeordneter bekommt: Normalerweise Beschwerden oder Interventionsfragen oder was immer. Dieser digitale Aspekt, der relativ neu ist, ist mehr Belastung für eine Abgeordnete als in der Vergangenheit. Es gibt Kommunikationsfunktionen: Abgeordnete sollen kommunizieren, zwischen Wählern und Regierung oder Oppositionsparteien. Wie die Stimmung im Land ist: Zum Beispiel jetzt, ob diese Einschränkungen, Ausgangsverbote oder was immer, akzeptiert werden von den Wählern, und kommuniziert das. Und die Regierung kann über Abgeordnete den Wählern kommunizieren, warum das so ist. Also die haben eine Brücken-Funktion und sollen miteinander kommunizieren, oder innerhalb der Partei. Also: Die multidimensionale Kommunikationsfunktion ist sehr wichtig.
KÖHLER: Zuletzt haben wir uns noch die Frage gestellt: Gibt es eigentlich auch Parlamente in politischen Systemen, die nicht demokratisch sind?
SULLY: Kommt darauf an, was man unter Demokratie versteht, natürlich. Man kann es als demokratisch bezeichnen, es war die "Deutsche Demokratische Republik" und hatte fünf Parteien zur so genannten Auswahl. Wenn man das ganze oberflächlich betrachtet, war das ein demokratisch gewähltes Parlament. Andere würden sagen, es war im Westen nicht demokratisch. Oder die Volksrepublik China: Die würden auch darauf bestehen, dass sie demokratisch gewählt sind, et cetera. Und es gibt dann viele Fragen, die aufgeworfen werden, in Zusammenhang mit dem Parlament und mit Wahlen in Ländern wie Russland, et cetera. Demokratisch dann im Sinne von den Verpflichtungen, die bei der OSZE dann festgelegt sind, und die auch Wahlbeobachter haben und eine freie, eine echte freie Wahl. Das ist transparent, dass die Wähler sich nicht wirklich unterdrückt fühlen und sie können hingehen, ohne Angst, dass irgendwas passiert. Also alle diese Dinge, die in den OSZE-Verpflichtungen verankert sind. Das ist glaube ich der Maßstab, und ja, das würde auch bedeuten, in einigen Ländern sind die Wahlen nicht immer so transparent und nicht immer so fair.
GASSNER-SPECKMOSER: Lieber Hörerinnen, Liebe Hörer, wir hoffen, Sie sind mit uns nun ein bisschen schlauer geworden und wissen nun, wieso die Anzahl der Abgeordneten und Mitglieder des Bundesrates in Österreich schon ganz gut ist, so wie sie ist.
KÖHLER: Wir sind hier jedenfalls schon wieder am Ende unserer Folge angelangt. Falls Sie Fragen, Anmerkungen oder Folgenideen haben, schreiben Sie uns wie immer unter podcast@parlament.gv.at. Wir, liebe Hörerinnen und Hörer, hören uns in zwei Wochen wieder. Tschüss!
GASSNER-SPECKMOSER: Ciao!