Wer war Amalie Seidel?
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In dieser Folge geht es um Amalie Seidel, eine Pionierin der Frauenrechtsbewegung, die als eine der ersten sozialdemokratischen Politikerinnen Abgeordnete im Parlament war.
Über ihr bewegtes Leben, von der Migrantentocher, die sich bereits in jungen Jahren sozialdemokratisch engagiert hat und spätestens durch den von ihr initiierten „Streik der 700“ letztlich von Viktor Adler entdeckt wurde, erzählt uns Dr. Gabriella Hauch, Professorin für Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Uni Wien.
© Parlamentsdirektion/Satzbau/hoerwinkel
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Gabriella HAUCH: Amalie Seidel, glaube ich, kann uns zeigen – und ich glaube, das ist ganz wichtig – ich komme aus einer migrantischen Familie, und es geht: Ich kann Handlungsspielräume ausnutzen, ich kann Handlungsspielräume versuchen zu erweitern, und ich kann Erfolg haben.
Tobias GASSNER-SPECKMOSER: Amalie Seidel war eine Pionierin der Frauenrechtsbewegung, eine der ersten sozialdemokratischen Politikerinnen und eine der ersten weiblichen Abgeordneten im Parlament. Liebe Hörerinnen, Liebe Hörer, Herzlich Willkommen zu einer neuen Folge von Parlament Erklärt, mein Name ist Tobias Gassner-Speckmoser.
Diana KÖHLER: Und ich bin Diana Köhler. Unsere heutige Folge ist die Letzte in unserer Reihe der ersten Frauen im Parlament. Wir sprechen mit Dr. Gabriella Hauch, Professorin für Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Uni Wien. Amalie Seidels Weg in die Politik, sowie was als Person ausgemacht hat, hat Hauch teilweise auch selbst erforscht.
***** JINGLE *****
GASSNER-SPECKMOSER: Liebe Frau Dr. Hauch, wer war Amalie Seidel?
HAUCH: Amalie Seidel war eine Sozialdemokratin, eine von sechs Sozialdemokratinnen, die die gesamte erste Demokratische Republik Österreichs über im Nationalrat eine Abgeordnete gewesen ist. Amalie Seidel ist 1876 in Wien geboren, aber man könnte sie vielleicht mit heutigem Vokabular als eine Migrantentochter bezeichnen. Das heißt ihre Eltern sind aus Böhmen zugewandert, sie hieß Amalie Ryba als Ledige und war eines von vier Kindern der Familie Ryba, die überlebt haben. Insgesamt haben Herr und Frau Ryba 17 Kinder gehabt. Er war Schlosser, er war ein engagierter Sozialdemokrat und war auch maßgeblich daran beteiligt, dass seine Tochter sich bereits in sehr frühen Jahren sozialdemokratisch, oder man könnte auch sagen gewerkschaftlich, sehr stark engagiert hat.
KÖHLER: Amalie Ryba hatte also ihrer Ausgangssituation nach nicht die besten Aussichten, sich politisch durchzusetzen. Wir wissen aus früheren Folgen, dass eine Kindheit in dieser Zeit, vor allem als Mädchen aus der Arbeiterschicht, nicht leicht war. Wie erging es Amalie denn?
HAUCH: Sie muss irgendwie ein ziemlich kluges junges Mädchen gewesen sein. Sie ist nämlich nach der sechsklassigen Volkschule auch in die Bürgerschule geschickt worden, was irgendwie für Mädchen aus solchen unterbürgerlichen soziaken Schichten eigentlich nicht die Regel war, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Aber die kleine Amalie Ryba ging in die Bürgerschule. Allerdings kam im zeitgenössischen Kontext von Wirtschaftskrise und Börsenkrachfolgen, et cetera es zu einer zunehmend prekären Situation der Familie Ryba und Amalie, die schon auch als Volkschülerin durch Heimarbeit, also Nähen, zum Familienbudget beitragen musste, muss nun nach einem Jahr die Bürgerschule verlassen, und sie wird Dienstmädchen. Sie hat damals fünf-sechs Kronen in der Woche verdient. Das war nicht nur ein geringer Verdienst, sondern in späteren autobiografischen Erinnerungen hat Amalie Seidel auch immer wieder erzählt, dass sie sexuell belästigt worden ist. Also man muss sich das vorstellen: Als zwölfjähriges Mädel in einem Haushalt wird man dann auch noch begrabscht. Das hat unter anderem auch dazu geführt, dass Amalie Ryba diese, scheinbar ja doch in sicheren Verhältnissen stattfindende, Erwerbsarbeit des Dienstmädchens oder der Dienstbotin verlassen hat und in eine Fabrik eingetreten ist.
GASSNER-SPECKMOSER: Auch als Fabriksarbeiterin wird sie es nicht so leicht gehabt haben, oder?
HAUCH: Fabrikarbeit war anstrengend, war mit sehr hohen Arbeitszeiten verbunden, es gab damals einen gesetzlichen Rahmen von 11 Stunden, der aber ganz alltäglich und ganz normal immer überschritten worden ist. Aber es gab eine Arbeitszeitbeschränkung, zum Beispiel, was es ja beim sogenannten "Dienst im Haus" nicht gegeben hat. Sie war in einer sogenannten Appretur-Fabrik in Wien Gumpendorf beschäftigt, Heller & Söhne hat die geheißen. Die Appretur-Fabrik hat in den großen Bereich der textilberarbeitenden Industrie gehört, nicht nur mit langen Arbeitszeiten, wie zuerst schon gesagt, sondern auch mit sehr fürchterlichen Arbeitsbedingungen: Es war sehr heiß, bis zu 50 Grad. Die Arbeiterinnen haben leicht bekleidet ihre Arbeiten gemacht, und dort kam es dann zu Übergriffen von sogenannten Vorarbeitern. Man muss sich aber vorstellen, dass diese junge, 15-16-jährige Amalie Ryba von ihrem Vater immer auch schon zu gewerkschaftlichen Versammlungen mitgenommen worden ist, oder zu Veranstaltungen von sogenannten ArbeiterInnen-Bildungsvereinen, die damals gegründet worden sind, und sie muss eine sehr aufgeweckte junge Arbeiterin gewesen sein, die dann im Jahr 1893 im April ihre rund 300 Kolleginnen in der Fabrik dazu aufgefordert hat, Ende April, es kommt der 1. Mai, der 1. Mai, der damals auf internationaler Ebene als sogenannter Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse oder der Arbeiterbewegung eingeführt worden ist, also diese junge Amalie Ryba versucht ihre Kolleginnen dazu anzustacheln oder zu überreden: Fordern wir doch von unserem Arbeitgeber, dass wir diesen Kampftag der Arbeiter und Arbeiterinnen frei bekommen. Und sie haben das auch tatsächlich durchgesetzt, allerdings ist Amalie Ryba am nächsten Tag, nämlich dann am 2. Mai, entlassen worden.
KÖHLER: Ein sehr partialer Erfolg also. Aber dabei ist es wohl nicht geblieben?
HAUCH: Das Spannende an diesem Ereignis, oder auch an dieser Erzählung, dieser Geschichte, ist, dass sich diese Arbeiterinnen stante pede solidarisiert haben, die Entlassung von Amalie Ryba wieder zurück haben wollten und außerdem diese sehr konkret personelle Forderung kombiniert haben mit der Forderung nach einem Zehn-Stunden-Arbeitstag und der Institutionalisierung, das heißt der Einführung, dass also ab jetzt der 1. Mai immer ein freier Tag sein sollte. Das ist natürlich nicht von heute auf morgen erfüllt worden, im Gegenteil. Demonstrationen dieser 300 Textilarbeiterinnen, die von ihrer Fabrik wegmaschiert sind, um andere Textilfabriken, wo eben vor allem Frauen gearbeitet haben, zur Solidarisierung aufzufordern. Also so ein Demonstrationszug ist auch von der Polizei angegriffen worden, die Polizisten waren nicht zimperlich, es hat verletzte Frauen gegeben. Es gibt irgendwie auch berühmte Stiche von diesen Auseinandersetzungen. Also drei Wochen wurde gestreikt, nachdem sich 700 Textilarbeiterinnen in den Vorstädten Wiens daran beteiligt haben, wird er auch als der "Streik der 700" bezeichnet, und er war von Erfolg gekrönt. Was eben auch in einer autobiografischen Erinnerung von Amalie Seidel da ganz spannend ist, vor allem auch für uns in der Forschung ganz spannend ist, von welchem Blickwinkel aus sie sich als eine führende Sozialdemokratin mit dem Feld des Politischen auseinandersetzt, ist, dass sie beobachtet, dass also nach diesen drei Wochen Streiks, die Arbeiterinnen plötzlich viel besser ausgesehen haben. Sie haben quasi drei Wochen lang "frei" gehabt, unter Anführungszeichen, wo sie nicht in der Fabrik in dieser Hitze, in dieser langen Zeit stehend im Wasser arbeiten mussten, sondern auch Zeit mit ihren Kindern verbringen konnten, an der frischen Luft sein, etc. Also da sieht man, das ist ein ganz spezifischer Blick, der das Alltägliche im Politischen oder das Politische im Alltäglichen irgendwie auch sehr gut eingefangen hat.
GASSNER-SPECKMOSER: Das war also Amalie Seidels erste Berührung mit der Politik. Wie ging es dann weiter?HAUCH: Ja, also mit diesem Streik der 700 war Amalie Seidel quasi "entdeckt", der sozialdemokratische Übervater, der Gründer, der Einiger Viktor Adler ist auf sie aufmerksam geworden und hat jetzt begonnen, wie es überhaupt damals in der Sozialdemokratie – also wir befinden uns jetzt im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts – üblich war, dass besonders junge, talentierte Frauen, die ganz wenig Schulbildung gehabt haben – da hatte Amalie Seidel direkt viel – da war es Usus, dass führende Sozialdemokraten, aber auch Sozialdemokratinnen, da hat es eher wenige Intellektuelle gegeben, diese jungen Frauen unter die Fittiche genommen haben und ihnen Wissen, Bildung, bürgerliches Benehmen, Orthografie beigebracht haben. Und das war also im Falle von Amalie Seidel, er wird als Gründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei benannt, Viktor Adler. Sie war also dann bereits in verschiedenen sozialdemokratischen Vereinen tätig und hat dort auch ihren späteren Mann, einen Ingenieur namens Richard Seidel, der auch aus Böhmen zugewandert ist, kennengelernt und die beiden haben dann 1895 geheiratet. Sie haben sehr schnell drei Kinder bekommen, zwei Töchter, einen Sohn, und Amalie Seidel, wie sie damals also schon hieß, hat sich fünf Jahre aus dem politischen Engagement, etc., zurückgezogen.
KÖHLER: Mit der Geburt ihrer Kinder hätte Amalie Seidels beginnende Karriere in der Sozialdemokratie also auch schon wieder beendet sein können. So war es aber nicht?
HAUCH: 1900 taucht sie dann wieder auf, und wenn man auch bedenkt, dass sie eigentlich ziemlich kleine Kinder hat, hat sie da ziemlich Gas gegeben, muss man sagen. Also es kristallisieren sich bereits in diesen 14 Jahren vor Ausbruch des ersten Weltkriegs schon ihre zentralen Tätigkeitsbereiche heraus. Das ist zum einen der ganze Bereich der Fürsorge, der ganze Bereich von Konsumgenossenschaften, also man sieht schon, sie hat einen politischen Blick gehabt, der das sogenannte Private versucht hat mit dem Politischen zu verknüpfen. Also es ging ihr nicht nur um die Diskussionen, um Parteiprogramme, um Forderungen, sondern es ging ihr vor allem durch sozialdemokratisches Engagement, oder mittels des Engagements der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, darum, das alltägliche Leben für die große Masse der unterbürgerlichen Schichten zu verbessern. Dabei hat sie auch immer einen ganz klaren, fokussierten Blick auf die Situation von Frauen gehabt. Sie war also nicht die Feministin, die "Frauen-Frau" der Sozialdemokratie wie es etwa Adelheid Popp war, oder die Intellektuelle Therese Schlesinger oder Gabrielle Probst, aber auch sie hatte einen geschlechtsspezifischen Fokus.
GASSNER-SPECKMOSER: Woran lag es denn, dass die ersten Parlamentarierinnen sich allesamt für die Grundrechte der Frauen einsetzen mussten? Gab es damals nicht schon bestehende Gesetze, die die Frau gleichberechtigt gegenüber dem Mann gemacht hätten?
HAUCH: Alle Parlamentarierinnen, die sozialisiert worden sind noch vor dem ersten Weltkrieg, noch vor der Republikgründung 1918, die also quasi am eigenen Leib erlebt haben, was es hieß, eine Frau zu sein, und damit ein Mensch zweiter Klasse. Also sich aufgrund des Paragrafen 30 im Vereinsrecht nicht politisch – explizit politisch – in einem Verein oder einer Partei organisieren zu dürfen, vom Wahlrecht ausgeschlossen zu sein, unter ganz schweren Bedingungen nur zu einer höheren Bildung beziehungsweise zur Matura kommen zu können, und vor allem eben der große Widerspruch zur, eigentlich in der 1867er Verfassung festgelegten, Gleichheit der Staatsbürger und Staatsbürgerinnen, dass im allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch im Familienrecht von 1811 der Mann als Haupt der Familie festgesetzt worden ist. Also die ersten Parlamentarierinnen, eben auch Amalie Seidel, haben das so richtig noch miterlebt. Viele dieser Gesetze, die Frauen zu Menschen zweiter Klasse gemacht haben, sind ja dann mit der Republikgründung 1918 aufgehoben worden, aber eben auch nicht alle. Zum Beispiel das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch mit seinem patriarchalen Familien- und Eherecht war ja eigentlich bis 1975 gültig und ist erst dann in der großen Familienrechtsreform unter Christian Broda zu einem partnerschaftlichen Ehe- und Familienrecht umgewandelt worden.
KÖHLER: Da möchten wir gleich einhaken: Amalie Seidel ließ sich von ihrem ersten Mann scheiden. War das in der damaligen Zeit nicht schwierig?
GASSNER-SPECKMOSER: Scheiden lassen war nicht das Schwierige. Das Schwierige war die Wiederverheiratung. Man hat also den Scheidungsakt nicht gefunden, und sie soll aber angeblich ihren langjährigen Freund, Geliebten, Lebensgefährten – das ist alles mit Fragezeichen verbunden, man weiß es nicht so genau – Richard Rausnitz, ein auch engagierter Sozialdemokrat allerdings jüdischer Herkunft, verehelicht haben, nach Einmarsch der deutschen Wehrmacht, nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, um ihn quasi mit ihrer, als arisch definierten, Herkunft, zu schützen. In welcher Art und Weise diese Heirat vollzogen worden ist, vielleicht nach jüdischem Ritus, steht noch aus. Also der Schutz, den Amalie Seidel ihrem Freund da zugedeihen lassen wollte, hat nichts genützt. Er hat mit seiner Schwester Suizid begangen, wie so viele jüdische Mitbürger und Mitbürgerinnen in der damaligen Zeit, um etwa Deportationen und etc. zu entgehen. Das heißt, die Ehe von Amalie und ihrem Ehemann Seidel war, wie überliefert wird, schon längere Zeit schon Eine nur mehr am Papier, und Freunde der einen Tochter von Amalie Seidel, nämlich Emma, haben auch erzählt, dass die Kinder eigentlich ziemlich drunter gelitten haben, unter diesem Hyperaktivismus ihrer Mutter – sei dahingestellt, wir können mit ihr nicht mehr reden.
GASSNER-SPECKMOSER: Privat war Amalie Seidels Weg also nicht immer leicht. Wie ging es denn politisch mit ihr weiter?
HAUCH: 1912 gelingt Amalie Seidel gemeinsam mit der etwas jüngeren Emmi Freundlich – auch eine der sechs sozialdemokratischen Nationalratsabgeordneten, die die gesamte erste Republik Abgeordnete geblieben sind – ein großer Coup, nämlich die Gründung der konsumgenossenschaftlichen Frauenorganisation. Es hat also damals eigentlich eine auf internationaler Ebene stattfindende Diskussion gegeben, was eigentlich jetzt Sozialdemokratie, oder sozialdemokratische Bewegung, oder Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung, ausmachen würde. Und da wurde der berühmte Satz von Karl Renner, dem späteren Präsidenten und Kanzler, kreiert, dass diese Arbeiterbewegung, diese sozialdemokratische Bewegung, in ihrem Bemühen, eine Transformation der gesellschaftspolitischen Verhältnisse herzustellen in Richtung mehr Gleichheit und Gerechtigkeit, auf drei Säulen funktionieren sollte, nämlich auf der Säule der sogenannten Partei, der Säule der Gewerkschaften, und die dritte Säule der Konsumgenossenschaften. Und Amalie Seidel und auch Emmi Freundlich haben sich gedacht, wie auch viele andere, über diese Funktion der Organisatorin des Haushalts könnte man an die Frauen, an die große Masse der Frauen herankommen, die Heimarbeiterinnen waren. Also die nicht in Großbetrieben arbeiteten, wo die Sozialdemokratie via Gewerkschaften, aber auch via anderen Vereinen leichter einen Zugriff zu ihnen hatte. Also es hat nicht so gut funktioniert, wie sich das am Papier leicht vorzustellen oder leicht zu skizzieren war, aber trotzdem ist dann im Laufe der ersten Republik die Konsumgenossenschaften und vor allem auch die Frauenorganisation der Konsumgenossenschaften ein wichtiger Mobilisierungs- aber auch Organisierungsfaktor auf der einen Seite geworden, und auf der anderen Seite nämlich genau das, was Amalie Seidel immer wollte: eine Verbesserung des Lebens der kleinen Leute. Das heißt durch die Ausschaltung von Zwischenhändlern konnte in den sogenannten "Konsum"-Geschäften, die es ja in Österreich bis in die achtziger Jahre auch noch gegeben hat, billiger eingekauft werden.
KÖHLER: Seidel ist aber auch als Pionierin der Jugendwohlfahrt bekannt. Wie ging es den Kindern damals?
HAUCH: Das andere große Projekt von Amalie Seidel war die Fürsorge, hier vor allem die Jugendfürsorge, und was oft bei ihr vergessen wird: Sie wird zwar 1919 Abgeordnete in der konstituierenden Nationalversammlung, also der bundesweiten, sie war aber bereits seit 1918 im Wiener Gemeinderat, und sie war vor allem die erste Stadträtin, wird aber dann von Universitätsprofessor Dr. Julius Tandler abgelöst. Und das war aber schon dann in den 1920er-Jahren so ihr Herzensanliegen, die Jugendwohlfahrt in Wien, aber auch in Niederösterreich – Wien und Niederösterreich werden ja dann zwei verschiedene Bundesländer. Sie war Vorsitzende von dem sogenannten "Jugendhilfswerk Wien", und dieses Jugendhilfswerk Wien hat versucht – also Wien war desaströs nach dem ersten Weltkrieg: Es war überbevölkert, es gab zu wenig Wohnraum, es gab zu wenig Essen, die Leute sind teilweise verhungert, haben nur gelebt von Ausspeisungen, der Wiener Wald ist abgeholzt worden – also es war eine ganz schreckliche Zeit, die wir uns überhaupt nicht mehr vorstellen können. Und da wollte Amalie Seidel also wirklich Hand anlegen und diese Situation verbessern und hier vor allem fokussiert auf Kinder und Jugend, die ja auch in dem Projekt Arbeiterbewegung Sozialdemokratie die Zukunft quasi dargestellt haben, also die Hoffnung. Diese jungen Leute sollten eine gute Bildung bekommen, sollten gesund werden – TBC wurde damals als Wiener Krankheit genannt, also die Bekämpfung der TBC war für sie eine ganz wichtige Sache. Genauso wie die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten: 12 Prozent des Habsburger Heeres war krank mit Syphilis. Es gibt Statistiken, die 1921 sagen, dass zehn Prozent der Wiener Bevölkerung Geschlechtskrankheiten hatte. Davon war immer auch die Jugend, die Kinder betroffen, oft schon infiziert, als sie im Bauch ihrer Mutter waren. Also das war ein ganz großes Projekt von ihr und das ist ihr auch wirklich sehr gut gelungen.
GASSNER-SPECKMOSER: Wie konnte Amalie Seidel ihre politischen Projekte denn so erfolgreich durchführen?
HAUCH: Es gibt so eine Episode aus dem Jahr 1925, und ich glaube, die verdeutlicht ganz gut so, wie Amalie Seidel auch agiert hat. Wir hatten von 1920 bis 1933 keine Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie auf Bundesebene, und 1925 hat der Sozialminister verkündet, dass der Bund sich von der Subventionierung dieser ganzen Aktionen, die das Jugendhilfswerk Wien durchgeführt hat, wie eben die Kinderverschickung im Sommer und solche Sachen, dass die Subvention zurückgenommen wird, und dass ab jetzt diese Kinder, die immer auf Sommerlager oder auf Erholung gefahren sind, dass die sich ihre Fahrtkosten selber zahlen mussten. Und das war für Amalie Seidel ein No-Go, und sie ist stante pede direkt zum Direktor der Bundesbahn, Dr. Maschart, gegangen, und hat mit ihm verhandelt und verhandelt und verhandelt, und schlussendlich hat Maschart zugesagt, dass die Bundesbahnen 33 Prozent dieser Kosten übernehmen würden. Also das heißt, sie hat sich überhaupt nicht entmutigen lassen, wenn es einmal ein Nein gegeben hat oder einen Rückschritt gegeben hat, sondern sie war eine selbstbewusste Frau und ist eigentlich auch durchmarschiert in ihren Projekten. Sie muss eine ausgezeichnete Rednerin gewesen sein: Nicht nur, dass sie als Siebzehnjährige 300 Textilarbeiterinnen dazu motiviert hat, in Streik zu treten, sondern auch ihre Parlamentsreden sind von vielen Zwischenrufen teilweise geprägt, wo man bei ihrer Schlagfertigkeit in der Antwort durchaus herauslesen kann, dass sie das gut handeln hat können, das heißt, dass sie am institutionalisierten Parkett der Politik im Parlament nicht ausgerutscht ist.
KÖHLER: Amalie Seidel war ja auch Zeugin einiger politischer Umbrüche. Wie erging es ihr denn in den beiden Weltkriegen?
HAUCH: Von Amalie Seidel kommt auch der glaube ich öfter zitierte Satz "die Partei hat mich nie enttäuscht, die Partei war alles für mich und ich habe ihr alles gegeben, was ich ihr geben konnte". Amalie Seidel wird inhaftiert, nachdem sie wieder entlassen worden ist engagiert sie sich nicht bei den klandestinen "Revolutionären Sozialisten", wie die sogenannte Untergrundpartei Sozialdemokratie in den 1930er-Jahren geheißen hat, aber bei ihr in der Wohnung war eine Art Zentrum, wo sich die "Genossinnen von früher", wie es Adelheid Popp formuliert, getroffen haben, und wo sie also irgendwie Tee getrunken haben und sich in freier Rede austauschen konnten. Im Nationalsozialismus wird Amalie Seidel überwacht, sie muss sich ab und an melden, also überwacht als Sozialdemokratin, es gibt das System der Blockwartsüberwachung, da fällt auch sie drunter, wie fast alle prominentere Sozialdemokratinnen, aber auch christlich-soziale Abgeordnete. Aber sie kommt dann 1944, im Zuge von verschiedenen Untersuchungen, wie die Netzwerke das Attentat auf Adolf Hitler betreffend geknüpft sind, wird sie auch für einige Wochen, knapp zwei Monate, ins Gefängnis gesteckt. Nach 1945 wird berichtet, dass sie ziemlich traurig geworden ist, also "gebrochen" ist vielleicht zu scharf formuliert, aber dass sie viel von ihrer alten Energie verloren hätte. Dann – und das ist auch eine sehr spannende Geschichte – die Tochter Emma war jahrelang die heimliche Geliebte des Wiener Bürgermeisters Karl Seitz, und die zwei, also Seitz war im Konzentrationslager, eine Zeit, die Zwei kommen dann wieder nach Wien zurück, und Amalie Seidel wohnt dann auch bei ihnen, was ihr noch ein bisschen Ruhe gibt, bis zu ihrem Tod im Jahre 1952 mit 77 Jahren.
GASSNER-SPECKMOSER: Liebe Hörerinnen, Liebe Hörer, die Frauen- und Familienrechtlerin Amalie Seidel hatte ein sehr bewegtes Leben hinter sich. Politische Erfolge und Freiheitsstrafen wechselten sich ab und zeigen, was für ein Kampf der Weg zur Gleichberechtigung der Frauen schon damals war.
KÖHLER: Wir sind schon wieder fast am Ende unserer Folge angelangt, haben uns aber natürlich noch gefragt, was uns von Amalie Seidel abseits des Amalie-Seidel-Weges im 12. Bezirk heute noch geblieben ist?
HAUCH: Amalie Seidel, glaube ich, kann uns zeigen – und ich glaube, das ist ganz wichtig – ich komme aus einer migrantischen Familie, und es geht. Ich kann Handlungsspielräume ausnutzen, ich kann Handlungsspielräume versuchen zu erweitern, und ich kann Erfolg haben. Amalie Seidel war, wie auch andere Politiker und vor allem Politikerinnen ihrer Generationen, eine, die das Politische mit dem sogenannten Privaten bereits verknüpft hat. Die auch die sogenannte Reproduktion, den Konsum, Kindererziehung, Kinder aufziehen, Kinder gebären, etc. – das alles war für sie eminent politisch. Dieser, heute würde man sagen Diskurs, der in den letzten Jahrzehnten der Habsburger Monarchie geführt worden ist, und dann vor allem auch in der ersten Republik, hat also den Raum und das Feld des Politischen so ausgedehnt, wie später erst wieder die neue Frauenbewegung seit den 1970er-Jahren, die ja angetreten ist mit diesem Slogan "Das Private ist politisch", wo den herkömmlichen Parteien, inklusive der Sozialdemokratie die Haare aufgestanden sind: "Was passiert da jetzt, was kommt?" Das war eigentlich eine Selbstverständlichkeit in diesen 1920er-Jahren. Oder damals ist diskutiert worden: Warum werden unverheiratete Frauen als "Fräulein" bezeichnet, unverheiratete Herren werden auch nicht als "Herrlein" bezeichnet – nur so als kleines Bon Mot dafür, was in den 20er-Jahren diskutiert worden ist. Und da war Amalie Seidel auf alle Fälle eine Akteurin davon. Und das zeigt aber auch, und das ist eigentlich, finde ich, ganz ganz wichtig, was diese beiden Diktaturen, die Österreich von 1933 bis 1945 durchleben musste, was diese beiden Diktaturen auch für die Geschlechtergerechtigkeit bedeutet haben, nämlich die Zerstörung einer Kultur, die sehr sehr hochstehend war.
GASSNER-SPECKMOSER: Falls Sie Fragen, Anmerkungen oder Folgenideen haben, schreibe Sie uns wie immer unter podcast@parlament.gv.at. Wir, liebe Hörerinnen und Hörer, hören uns in zwei Wochen wieder. Tschüss!
KÖHLER: Ciao!