Peter BECKER: Und dann hat man eben ein Parlament, das letztlich sozusagen immer wieder aufgelöst wird. Die Erwartungen erfüllen sich nicht, also es bleibt weiterhin extrem volatil.
Stefanie SCHERMANN: Herzlich Willkommen zurück zu einer neuen Folge von "Parlament erklärt", dem Podcast des österreichischen Parlaments. Mein Name ist Stefanie Schermann.
Tobias LESCHKA: Und ich bin Tobias Leschka. In unserer letzten Folge haben wir mit dem Historiker Peter Becker über die Revolution von 1848 gesprochen. Eine Folge der Revolution in Österreich war, dass es zusätzlich zum herrschenden Kaiser auch ein Parlament mit Vertretern der Bevölkerung gab.
SCHERMANN: Heute haben wir Herrn Becker, der sich an der Uni Wien eingehend mit dem Ende der Monarchie auseinandergesetzt hat, erneut zum Gespräch eingeladen. Wir erfahren heute, wer bei den ersten Wahlen in Österreich wählen durfte und wieso der Erste Weltkrieg es unmöglich gemacht hat, die Monarchie weiterzuführen.
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LESCHKA: Lieber Herr Becker, klären wir vielleicht unsere Ausgangssituation: Das Kaisertum Österreich hat gerade eine Revolution überstanden, die teilweise sogar blutig niedergeschlagen wurde. Was passiert jetzt?
BECKER: Das löst eben genügend Erschütterung aus, dass der Kaiser eben sozusagen die Pressefreiheit und eine Verfassung in Aussicht stellt. Das heißt, hier beginnt dann ein Prozess, der dann eben in das erste gewählte Parlament mündet, eben dann 1848 mit dem Reichstag, das dann tatsächlich ein Parlament ist, dass von der Bevölkerung gewählt wird. Also es gibt relativ wenig Einschränkungen.
SCHERMANN: Wer darf denn nun nach 1848 wählen?
BECKER: Diese große Diskussion in dieser Zeit, also eben bis 1907, als dann dieses allgemeine gleiche Wahlrecht eingeführt wird, ist ja die Frage, was macht man, was ist eben sozusagen die Basis oder was qualifiziert jemanden dafür, politisch partizipieren zu können. Aus der Sicht des sozusagen liberalen Bürgertums ist es Selbstständigkeit. Und die wird eben den Lohnarbeitern und Dienstboten abgesprochen. Und die Sozialdemokraten, die kontern halt dann und sagen, gut und weshalb sind dann die Beamten wahlberechtigt, ja, weil die Beamten sind definitiv nicht selbstständig und unterliegen vielleicht stärker eben den Vorgaben ihrer Vorgesetzten als die Personengruppen, die ausgeschlossen sind. Das heißt, die Frage ist, was die Liberalen aber wollen ist politische Partizipation wie ich schon gesagt hab, sie wollen in jedem Fall eine Verfassung. Und deshalb ist es denen auch so wichtig, dass diese vor, gewissermaßen vor dem Zusammentritt des Reichstags verabschiedete Verfassung, die eben gewissermaßen sozusagen eine Art oktroyierte Verfassung ist, weil sie eben von der Regierung entwickelt worden ist und verabschiedet worden ist, von dem Pillersdorf, dass die als eine nur vorläufige Verfassung verstanden wird und der Reichstag selbst, dass man da dazu kommt, eben eine Verfassung auszuarbeiten.
LESCHKA: Das heißt also, man kann das damalige Wahlrecht eigentlich nicht mit unseren heutigen freien, gleichen Wahlen vergleichen, oder? Bis 1918 durften ja etwa nur Männer wählen.
BECKER: Es gibt auch explizit sozusagen keinen Ausschluss von Frauen, aber implizit sind die schon ausgeschlossen und es gibt ganz wenig sozusagen sozialen Ausschluss, im Gegensatz zu den späteren Wahlrechtsordnungen. Das zentrale Kriterium ist eben eine sechsmonatige Anwesenheit am Ort. Was allerdings in Zeiten hoher Mobilität, gerade bei den Arbeitern, Tagelöhnern und Dienstboten, schon einen gewissen sozusagen Ausschluss mitbedeutet. Genau, also unter diesem Wahlmodus war die Stimmenabgabe gleich. Das kommt dann allerdings später, wird das wieder zurückgenommen und es kommt dann erst wieder 1907 wird dann tatsächlich eben, und dann ist dann ganz explizit die Einführung vom allgemeinen, gleichen Wahlrecht – für Männer. Was Sie vielleicht auch interessieren könnte noch, ist Brigitte Bader-Zaar, die eigentlich unsere Wahlrechtsexpertin ist. Und die hat eben eine ganz interessante Beobachtung gemacht, dass in der Habsburger-Monarchie bis zur Einführung des allgemeinen gleichen Männer-Wahlrechts auf Reichsebene und dann aber eben bis zum Ende auf Landesebene, solange eben gewählt worden ist, Frauen eigentlich ein recht, fast könnte man sagen, selbstverständlich, sozusagen ein fast selbstverständliches Wahlrecht hatten. Wenn sie eben bestimmte Bedingungen erfüllt haben. Also sie waren immer wahlberechtigt in der ersten Kurie, das ist die Kurie der Großgrundbesitzer. Und da sind die auch wahlberechtigt geblieben, aber sie waren auch wahlberechtigt bei den Städten und teilweise auch bei den Landgemeinden, wenn sie entsprechenden Besitz hatten. Und es ist eben hier so, eigentlich die Demokratisierung, die 1907 eintritt, führt dazu, dass eben hier diese soziale Diskriminierung aufhört, dass allerdings die Geschlechterdiskriminierung zunimmt.
SCHERMANN: Das Wahlrecht ist damals noch lange nicht auf unseren heutigen demokratischen Standards. Wir haben vorhin schon vom liberalen Bürgertum und von Sozialdemokraten gesprochen. Gab es in der Zeit nach 1848 schon politische Lager, gab es schon Vorläufer von den heutigen Parteien?
BECKER: Ja, ich meine, es gab definitiv die Lager, also sicher vor allen Dingen auf der einen Seite die Demokraten, die Linken und dann die eher Konservativen. Parteien würde ich jetzt nicht sagen. Also das was eben den Parlamentarismus bis ins späte 19. Jahrhundert auszeichnet ist, dass es eben eher volatile Klubzuordnungen gibt, die dann später stabiler werden, wenn sie sich national definieren. Aber die jetzt in keiner Weise mit heutigen Parteien vergleichbar sind. Das entsteht erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Vor allen Dingen eben mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, den Christlich-Sozialen und zu einem gewissen Grad auch den Deutsch-Nationalen. Aber die zwei ersten, das sind diejenigen die tatsächlich eben so etwas wie eine moderne Parteistruktur entwickeln auch mit Vorfeld-Organisationen. Weil ja alles, was eben hier sozusagen an politischer Arbeit passiert, ist im Grunde immer politische Arbeit von Honoratioren, die jetzt nicht eingebunden ist in eine Parteiarbeit. In der Regel kann man sagen, es ist einfach so eine Honoratioren-Politik und deshalb gibt es zwar sozusagen Klubs, in denen die sich organisieren, aber es gibt eben keine sozusagen mit der heutigen Situation vergleichbare Parteienstruktur. Auch deshalb, weil in der ganzen Zeit der Habsburger-Monarchie ist ja über das Mehrheitswahlrecht die Wahlbezirks-Verbindung viel stärker als die Partei, also als eine andere Art der politischen Zugehörigkeit.
LESCHKA: Das müssen wir vielleicht kurz erklären: Honoratioren waren, vor allem in Kleinstädten und Dörfern, höher gestellte Bürger wie Pfarrer, Lehrer oder Ärzte – hier muss man übrigens nicht gendern, denn das waren damals tatsächlich nur Männer. Wir haben jetzt also schon den ersten Vorläufer unseres Parlamentes, den Reichstag, kennengelernt. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges gibt es den dann aber nicht mehr. Was ist passiert?
BECKER: Es gibt den Reichstag, aber eben nur bis 1849. Dann wird er aufgelöst, als die beginnen, Flausen zu entwickeln und in der Verfassung die Volkssouveränität beanspruchen. Das ist eben etwas, was dem Kaiser, dann dem jungen Kaiser, dem Franz Josef, mit 18 Jahren gar nicht passt, dass hier ein Volk souverän sein kann und er nicht. Und es gibt dann so diese Art dieses sogenannten Neo-Absolutismus, wo es kein Parlament gibt. Und dann 1860 beziehungsweise 1861 beginnt das dann wieder, allerdings interessanterweise eben nicht als Reichstag, sondern dann als Reichsrat. Weil der Reichsrat existiert ja auch während des Neo-Absolutismus als so eine Art Beratergremium und das, was man dem Kaiser eben 1860 noch irgendwie schmackhaft machen kann, ist sozusagen, gut, das mit dem Parlament versteht man schon, das wird vielleicht nicht wiedereingeführt. Wir erweitern einfach diesen Reichsrat und der Reichsrat hat sich soweit und so systematisch erweitert, dass er dann das Parlament war, nämlich sozusagen auch noch mit mehr Sitzen als der Reichstag es gewesen ist. Auch mit zwei Häusern, der Reichstag hatte nur ein Haus, 1848-1849. Der Reichsrat hatte dann eben das Herrenhaus und das Abgeordnetenhaus. Und das heißt, es beginnt dann in den 1860ern wieder langsam. Es dauert bis 1873, also bis nach dem Ausgleich mit Ungarn, bis dann auch das Abgeordnetenhaus direkt gewählt wird von den Wahlberechtigten. Und das ist noch ein Zensus-Wahlrecht mit einem relativ hohen Einstiegszensus und ein Kurienwahlrecht, wo eben die unterschiedlichen Wahlstimmen unterschiedlich viel Gewicht haben. Und das geht bis 1907, bis dann eben das allgemeine gleiche Männer-Wahlrecht eingeführt wird.
SCHERMANN: Das klingt ja nach einem halbwegs funktionierenden System, in dem Reichsrat und Kaiser koexistieren können. Im Reichsrat geraten das Herrenhaus und das Abgeordnetenhaus aber immer wieder aneinander. Die K&K-Monarchie besteht in dieser Zeit auch aus sehr, sehr vielen Ländern mit unterschiedlichen Traditionen und Sprachen. Deutsch, Tschechisch, Slowakisch, Polnisch, Ruthenisch bzw. Ukrainisch, Rumänisch, Kroatisch, Slowenisch und Italienisch wurde gesprochen. Wie kann so ein Parlament funktionieren?
BECKER: Und dann hat man eben ein Parlament, das letztlich sozusagen immer wieder aufgelöst wird. Die Erwartungen erfüllen sich nicht, also es bleibt weiterhin extrem volatil. Also ab den 1890er-Jahren ist es sehr, sehr schwierig, Mehrheiten zu finden, es gibt massive Obstruktionen, so dass letztlich eben auch das Parlament, das dann mit allgemeinem Männer-Wahlrecht, allgemeinem, gleichen Männer-Wahlrecht gewählt wird 1913 auch schon wieder aufgelöst wird.
LESCHKA: Und dann beginnt auch schon bald der Erste Weltkrieg. Am 28. Juni 1914 wird Erzherzog Franz Ferdinand, der Thronfolger Österreich-Ungarns, in Sarajewo erschossen.
BECKER: Wie es dann zum Beginn des Krieges kommt, hängt eben auch sozusagen mit diesen unterschiedlichen, einerseits sind es sozusagen Erwartungen an das was die Monarchie sein will, zusammen, nämlich eine Großmacht. Die Art und Weise, wie sich diese Großmacht von dem serbischen Nachbarn provoziert fühlt und es geht ja auch da sozusagen um die Art und Weise, wie serbische Kräfte da in dieses Attentat verstrickt waren. Und den Versuch, eben hier ein sozusagen ein starkes Signal zu setzen, führt halt zu einem Aktivieren dieser ganzen Bündnismechanismen, die halt letztlich dann den Krieg, sozusagen einen lokalen Konflikt zwischen der Habsburger-Monarchie und Serbien, zu einem Weltkrieg machen.
SCHERMANN: Nach dem Ersten Weltkrieg ist ja bekanntlich auch die Monarchie Geschichte. Wieso gibt es keine Chance mehr für die Habsburger, die Monarchie weiterzuführen?
BECKER: Das, was eben im Krieg passiert, ist letztlich für die Habsburger-Monarchie in vielerlei Hinsicht fatal. Also erstens einmal sind die Planungen nicht optimal, um das ganz euphemistisch zu sagen. Dann logistisch funktioniert sie nicht wirklich, die, sozusagen die strategischen, Planungen sind auch nicht sehr erfolgreich und vor allen Dingen jetzt sozusagen führt das auch dazu, dass durch die Aktivierung des Ausnahmezustandes und ein ganz starkes Bekenntnis der Zivilregierung unter Stürgkh, eigentlich zur vorbehaltlosen Unterstützung des Kriegszwecks, führt das eben dazu, dass eben hier bestimmte Kontrollmechanismen nicht aktiviert werden. Das Militär ist sehr stark eben auch deutschnational orientiert und beginnt mit einem ganz radikalen Vorgehen gegen die slawischen Bevölkerungsgruppen, sowohl in Slowenien als auch in den böhmischen Ländern und das entfremdet eben auch diese Gruppen einfach immer stärker von der Monarchie. Und letztlich schon, was dazu kommt, ist eben wie schon gesagt auch eine ganz schlechte Planung. Letztlich kann aufgrund verschiedener, sozusagen auch Logistikengpässe, und ich meine, es ist eben auch schwierig in Zeiten der Blockade eben auch entsprechende Rohstoffe bereitzustellen, aber die Regierung kann gerade in den Städten auch die Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung nicht mehr sicherstellen, die Energieversorgung nicht mehr sicherstellen.
LESCHKA: Das hört sich fürchterlich an, doch in Kriegen entstehen ja bis heute oft unmögliche Lebenssituationen für die Bevölkerung der Länder, die Krieg miteinander führen. Wieso schafft es die Habsburger-Monarchie denn konkret nicht aus der Krise des Ersten Weltkriegs heraus?
BECKER: Es ist eben sozusagen einerseits, es ist der Krieg gegen die Bevölkerung – das wäre das Argument von John Deak – die führen einen Krieg gegen die Bevölkerung. Vor allen Dingen gegen die, zuerst gegen die slawische Bevölkerung, dann gegen die Arbeiter, und wollen, Maureen Healys Argument, das ist einfach, die Leute, vor allen Dingen die Frauen, die zurückbleiben, die sind einfach vor eine hoffnungslose Situation gestellt. Und das führt dann letztlich auch dazu, dass die Wiedereinberufung des Reichsrates, die bietet dann eigentlich die Plattform, diese ganzen Vorbehalte oder auch diese vielen, sozusagen Übergriffe einfach mal zu thematisieren. Aber es ist keine Plattform, in der hier eine gemeinsame Lösung, oder eine gemeinsame, sozusagen eine gemeinsame Idee nochmal entstehen würde, wie man die Monarchie nochmal auch gemeinsam weiterführen könnte.
SCHERMANN: Der Reichsrat tagt also wieder, es wirkt gerade so, als würde der Nachfolger von Kaiser Franz Josef das Kaisertum weiterregieren. Wie kommt es dann trotzdem zum Ende der Habsburger-Monarchie?
BECKER: Das war 1917, das war eine der Initiativen von Kaiser Karl nachdem Kaiser Franz Josef gestorben war, ist er eben als Nachfolger an die Regierung gekommen und das war eben ein Versuch, hier aus dieser schon sehr kompliziert verfahrenen Situation einen Ausweg zu finden. Aber wie gesagt, also der Ausweg hat sich nicht angeboten, weil eben da zu viel passiert ist vorher. Und immerhin, das Parlament tagt weiterhin bis es sich einfach selbst auflöst, zum Zeitpunkt als ebenso eine parlamentarische Vertretung der Ersten Republik schon eigentlich, sozusagen gleichzeitig tagt.
LESCHKA: Damit sind wir auch schon wieder am Ende unserer heutigen Folge! Vielen Dank an Herrn Peter Becker von der Uni Wien, und auch Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, ein herzliches Dankeschön fürs zuhören!
SCHERMANN: Wenn Sie zwischenzeitlich Fragen, Anregungen oder Vorschläge für neue Folgen haben, schreiben Sie uns wie immer unter podcast@parlament.gv.at. Ansonsten hören wir uns in zwei Wochen wieder. In unserer Serie zur Geschichte des Parlamentarismus geht es dann weiter mit dem Parlament als Ort: Wann ist das Parlament auf die Wiener Ringstraße gezogen? Und wo war es vorher? Und was ist jetzt eigentlich mit der Renovierung?
LESCHKA: Wir würden uns freuen, wenn Sie in zwei Wochen wieder zuhören. Bis dahin: Ciao!
SCHERMANN: Tschüss!