Wie entwickelte sich das Parlament in der Ersten Republik?
Details
Info
Wie entwickelte sich das Parlament in der Ersten Republik? Wie entstanden Nationalrat und Bundesrat? Welche Rolle spielte dabei die noch junge Verfassung? Und warum gab es einmal ein Scheinparlament?
Darüber sprechen unsere Hosts Stefanie Scherman und Tobias Leschka in der aktuellen Folge unseres Podcasts „Parlament erklärt“ mit dem Parlamentarismusforscher Günther Schefbeck. Die neue Folge ist Teil unserer Reihe zur Geschichte des Parlamentarismus in Österreich.
© Parlamentsdirektion/Satzbau/hoerwinkel
Links
Folgen Sie unserem Podcast auf:
Transkription
Günther SCHEFBECK: Nie zuvor und nie nachher hat in einer Verfassungsordnung das Parlament eine so zentrale Rolle in der Verfassungsordnung gespielt.
Stefanie SCHERMANN: Herzlich willkommen zu einer neuen Folge "Parlament erklärt". Wir sprechen heute über das Parlament in der Ersten Republik. Parlamentarismusforscher Günther Schefbeck war lange der Archivar des Parlaments. In unserer letzten Folge haben wir mit ihm über das Parlament als Ort gesprochen. Heute wollen wir von ihm wissen, wie das erste Parlament nach der Monarchie entstanden ist. Mein Name ist Stefanie Schermann ...
Tobias LESCHKA: Und ich bin Tobias Leschka. Nach dem Ende der Kaiserzeit ist unsere Verfassung entstanden. Diese besteht, natürlich mit einigen Änderungen, bis heute. Aber zunächst muss der Staat Österreich erst einmal gegründet werden.
***** JINGLE *****
SCHEFBECK: Wir beginnen im Jahr 1918 mit einer Phase der österreichischen Geschichte, in der dem Parlament eine ganz entscheidende Bedeutung zukommt: Die Gründung des Staates Österreich oder Deutschösterreich, wie er sich damals zunächst selbst genannt hat. Das ist einer der verhältnismäßig wenigen Fälle in der Geschichte, in denen ein Staat von einem Parlament gegründet worden ist. Warum selten? Klarerweise, weil selten ein Parlament existiert, wenn sich ein Staat gründet – normalerweise wird erst dann ein Parlament gewählt. Das Parlament, das diesen Staat gegründet hat, die provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich, wie sie sich genannt hat, ist aber aus dem Parlament des "alten Österreich", wenn wir es kurz so nennen wollen, also mit einem landläufigen Ausdruck, des cisleithanischen Reichsteils der österreichischen Monarchie, heraus entstanden. Es haben sich nämlich die Abgeordneten der, wie sie genannt wurden, "deutschen Wahlbezirke", wir würden sagen "deutschsprachigen Wahlbezirke" des Abgeordnetenhauses, des altösterreichischen Reichsrates, am 21. Oktober 1918 zusammengefunden im niederösterreichischen Landhaus in der Herrengasse in Wien und dort diese provisorische Nationalversammlung gebildet, die in der Situation am Ende des Ersten Weltkrieges, als die Monarchie kurz und erkennbar vor dem Zusammenbruch stand, als sich schon erste Teile dieses Staates abzulösen begannen, die Aufgabe hatte, die deutschsprachigen Teile dieser alten österreichischen Monarchie in einen neuen Staat überzuführen.
SCHERMANN: Mit der provisorischen Nationalversammlung gab es also bereits ein neues Parlament, bevor der neue Staat Österreich überhaupt gegründet wurde. Es bestand aus Vertretern des deutschsprachigen Teils vom Kaiserreich. Zugleich hatte es aber auch schon unter dem Kaiser eine Volksvertretung gegeben: Ein zweites, jetzt "altes" Parlament.
SCHEFBECK: Diese beiden Parlamente, das altösterreichische Parlament, der Reichstag beziehungsweise dessen Abgeordnetenhaus, und die provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich haben für drei Wochen parallel existiert. Es hat also sich dieses alte Parlament weiter getroffen im Parlamentsgebäude an der Ringstraße und parallel dazu hat das neue Parlament, die provisorische Nationalversammlung, zunächst im Oktober im niederösterreichischen Landhaus getagt und dann im November schon das Parlamentsgebäude bezogen, zu einem Zeitpunkt, als dort auch noch das Abgeordnetenhaus getagt hat. Also eine ganz eigentümliche, fast bizarr zu nennender Situation, mit Ernst Bloch könnte man sagen, eine Situation der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Es bestehen gleichzeitig nebeneinander zwei Parlamente, die aber unterschiedlichen Vertretungsumfang haben, ihrem Anspruch nach und unterschiedliche Aufgaben und ganz unterschiedliche Zielrichtungen. Das eine bemüht sich um Abwicklung des noch existierenden Rests der Monarchie und das andere bemüht sich darum, einen neuen Staat aufzubauen.
LESCHKA: Es gab also für kurze Zeit sogar zwei Parlamente in Österreich. Das neue Parlament hatte die Aufgabe, den Staat Österreich aufzubauen. Doch wie sollte das vonstatten gehen? Und gab es eigentlich nicht immer noch einen Kaiser?
SCHEFBECK: Das geschieht dadurch, dass diesem neuen Staat zunächst einmal ein verfassungsrechtlicher Rahmen gegeben wird, von diesem Parlament, von der provisorischen Nationalversammlung. Am 30. Oktober, also noch im Landhaus in der Herrengasse, wird eine erste provisorische Verfassung, ein Gesetz über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt erlassen, das einen sehr groben, strukturellen Rahmen für diesen neuen Staat vorgibt. Und am 12. November, schon im Parlamentsgebäude an der Ringstraße, wird dann dieses Verfassungswerk dadurch zum Abschluss gebracht, dass die Staatsform der Republik ausgerufen wird. Diese Staatsform war am 30. Oktober noch offengeblieben, obwohl der Staat im Prinzip mit diesem Rahmenwerk einer Verfassung schon gegründet war, aber die Staatsform war offengeblieben, weil der Kaiser Karl ja noch im Amt gewesen ist und unklar war, in welcher Form oder ob überhaupt er in diesen neuen Staat zu integrieren sein würde. In den danach vergehenden zwei Wochen hat sich dann sehr klar herauskristallisiert, dass für diesen Kaiser im neuen Staat kein Platz sein würde. Er hat auf seinen Anteil an den Regierungsgeschäften verzichtet und daraufhin war der Weg auch symbolisch frei für die Ausrufung der Republik.
SCHERMANN: Der Kaiser musste also, mehr oder weniger freiwillig, zurückziehen. Die Republik Österreich war geboren. Die Rolle als Oberhaupt des Landes lag auf einmal beim Parlament. Doch was ein Parlament in einem Staat tut und was nicht, war am Anfang gar nicht so klar.
SCHEFBECK: Das für unser Thema, die Entwicklung des Parlamentarismus in der Ersten Republik, Wichtigste an dieser provisorischen Verfassungsordnung war, dass sie ohne Zweifel die "parlamentarischste" Verfassungsordnung, wenn man das Adjektiv parlamentarisch in den Superlativ setzen kann, in der Geschichte der Republik Österreich gewesen ist. Das heißt, nie zuvor und nie nachher hat in einer Verfassungsordnung das Parlament eine so zentrale Rolle in der Verfassungsordnung gespielt. Das war ganz eindeutig allen anderen Staatsgewalten übergeordnet und hat sogar, dieser Verfassungsordnung zufolge, durch einen Vollzugsausschuss, wie er zunächst genannt worden ist, dann ist er als Staatsrat bezeichnet worden, formell die Regierungsgewalt ausgeübt. Das heißt, es gab in dieser Verfassungsordnung des Oktober 1918 nicht die uns wohl bekannte, vertraute, geläufige Gewaltenteilung oder sogar Gewaltentrennung zwischen Parlament und Regierung, sondern das Parlament hat durch diesen Vollzugsausschuss beziehungsweise Staatsrat die Regierungsgewalt selbst auszuüben getrachtet. Das hat aber, wie sich sehr schnell herausgestellt hat, nicht funktioniert. Das war ein zu schwerfälliger Mechanismus. Sehr schnell sind die Leiter der einzelnen Staatsämter in die Rolle von Ministern geschlüpft, formell sollten sie dem Vollzugsausschuss beziehungsweise Staatsrat untergeordnet sein, sehr schnell aber hat sich so etwas wie eine vom Parlament unabhängige Regierung faktisch herausgebildet, unter der Leitung eines sehr starken, sehr kreativen Regierungschefs, könnte man sagen, des Staatskanzlers Karl Renner. Und diese Realität, die sich wahrscheinlich notwendig aus den Erfordernissen von Regierung in einem modernen Staat ergibt, hat dann dazu geführt, dass nach der Wahl des ersten gewählten Parlaments dieses jungen Staates, der Republik Deutschösterreich, im Februar 1919 dann im März 1919 eine neue Verfassung erlassen worden ist, von dieser dann konstituierenden Nationalversammlung und in dieser Verfassung ist man zum herkömmlichen Gewaltenteilungsgrundsatz zurückgekehrt.
LESCHKA: Zur Gründung der Republik hat das Parlament also Regierungsgewalt ausgeübt. Dass aber eine Gewaltenteilung sinnvoll ist, war ein Lernprozess. Etwas anderes, dass sich im Jahr 1919 aber schon etabliert hatte: Die Gleichstellung von Frauen und Männern vor dem Staat. Zumindest, was das Wahlrecht betraf.
SCHEFBECK: Ganz entscheidend war, dass sich nach Ende des Ersten Weltkrieges das Prinzip des allgemeinen Wahlrechts ohne Unterschied des Geschlechts eigentlich widerspruchslos oder nahezu widerspruchslos durchgesetzt hatte. Das heißt, das was zuvor im Jahr 1907 anlässlich der großen Reichsratswahlreform, mit der das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht eingeführt worden ist, als noch nicht durchsetzbar erwiesen hatte, das war jetzt unter dem Eindruck des Krieges, der Kriegswirtschaft, der Rolle, die die Frauen im Krieg gespielt hatten in vielen gesellschaftlichen Funktionen, in vielen beruflichen Funktionen, in die sie anstelle der im Krieg befindlichen Männer eingetreten waren, das war jetzt unter diesem Eindruck ganz selbstverständlich geworden. Das heißt, die Wahl vom Februar 1919 war die erste in Österreich, die auf der Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechts ohne Unterschied des Geschlechts stattgefunden hat. Im Übrigen war Österreich damit im internationalen Vergleich immer noch durchaus fortschrittlich, es hat aber auch anderswo der Erste Weltkrieg einen Durchbruch zum Frauenwahlrecht gebracht.
SCHERMANN: Österreich war nun also eine Republik. Deren Wahlrecht war für damalige Verhältnisse modern, es war frei und gleich. Doch die Gesetze der Republik waren noch gar nicht festgeschrieben.
SCHEFBECK: Die konstituierende Nationalversammlung hatte nun also die Aufgabe, eine endgültige Verfassung für die Republik Österreich, wie sie dann nach dem Staatsvertrag von Saint Germain zu nennen war, zu entwickeln, zu erlassen. Das war ein schwieriger Prozess, ein Prozess, in dem das Parlament, die konstituierende Nationalversammlung, zwar von der Verfassung die Aufgabe oder zu dem das Parlament, die Nationalversammlung von der Verfassung den Auftrag erhalten hatte, in dem sich aber auch die Länder einbrachten auf Länderkonferenzen, wurden ebenfalls Verfassungsfragen erörtert. Letztlich aber hat sich erwiesen, dass auf diese Weise keine Einigung zu erzielen war und so ist im Sommer 1920 die Aufgabe wiederum an die konstituierende Nationalversammlung zurückgefallen, die sie durch einen Unterausschuss des Verfassungsausschusses wahrgenommen hat. In diesem Unterausschuss des Verfassungsausschusses wurde also im Sommer 1920 die heutige, bis heute in Geltung stehende, mit vielen Änderungen in Geltung stehende Bundesverfassung der Republik Österreich erarbeitet, unter maßgeblicher Mitwirkung des Staatsrechtlers Hans Kelsen, der einen formalen Rahmen, aber auch viele inhaltliche Gedanken für diese Verfassung entwickelt hatte und der daher sozusagen als Architekt der österreichischen Bundesverfassung bezeichnet werden könnte.
SCHERMANN: In dieser Verfassung wurde unter anderem festgelegt, dass es auch einen Bundesrat geben soll. Den hatte es bis jetzt nicht gegeben. Der Bundesrat sollte die Interessen der Bundesländer im Parlament vertreten. Er ist bis heute die zweite Kammer des Parlaments.
SCHEFBECK: Nachdem die konstituierende Nationalversammlung ihre wichtigste Aufgabe, die Ausarbeitung dieser neuen und definitiven Verfassung des Bundesverfassungsgesetzes, erledigt hatte, wurde zum ersten Mal auf der Grundlage dieser neuen Regelungen der Nationalrat gewählt. Und damals begannen sich die politischen Kräfte und das heißt, parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse, zu verschieben. Bei diesen ersten Nationalratswahlen erhielt die christlichsoziale Partei die relative Mehrheit und bildete dann keine Koalition mehr mit der Sozialdemokratie, die von da an in der gesamten ersten Republik die parlamentarische Opposition dargestellt hat. Die christlichsoziale Partei hatte wechselnde Koalitionspartner – kleinere Parteien, die konservative Positionen vertraten.
LESCHKA: Parteien hat es schon im Jahr 1880 gegeben. Damals wurde das Wahlrecht ausgeweitet. Man musste als Politiker auf einmal eine große Reichweite haben, nur so konnte man bekannt genug werden um auch gewählt zu werden. Wer also gewählt werden wollte, musste fast einer größeren Organisation beitreten. Die hatten die finanziellen Mittel um Wahlwerbung in Zeitungen schalten und Wahlveranstaltungen ausrichten zu können.
SCHERMANN: Das war die Geburtsstunde der Massenparteien. Zur Zeit der Ersten Republik gab es drei sogenannte Lager: Die konservativen Christlichsozialen, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei und ein zunächst eher kleines deutschnationales Lager. Die beiden Großparteien, die Christlichsozialen und die Sozialdemokratie, waren zunächst sehr um Kompromisse bemüht.
LESCHKA: Zum Beispiel, als es darum ging, wie viel Macht das Staatsoberhaupt, der Bundespräsident, haben sollte.
SCHEFBECK: Über den haben wir bisher noch nicht gesprochen. Der Bundespräsident als Staatsoberhaupt wurde durch die Bundesverfassung im Jahr 1920 ebenfalls eingerichtet, war aber von der Bundesversammlung, also den Mitgliedern des Nationalrates und des Bundesrates in gemeinsamer Sitzung zu wählen, war nicht vom Volk zu wählen, hatte daher auch eine geringere demokratische Legitimation, unverhältnismäßig wenig verfassungsmäßig verankerte Rechte, war also ein eher schwaches Staatsoberhaupt. Die Stellung dieses Staatsoberhauptes, des Bundespräsidenten, sollte nun nach den Forderungen der Christlichsozialen gestärkt werden. Die Sozialdemokraten demgegenüber wollten an der starken Stellung des Parlaments gegenüber der Exekutive festhalten, also den Positionen, die sie bereits 1920 eingenommen hatten. Im Prinzip eine deswegen leicht paradox erscheinende Situation, weil die Sozialdemokraten im Parlament ja eine Minderheit gebildet haben. Das heißt, obgleich die Sozialdemokraten im Parlament lediglich als Minderheit vertreten waren, haben sie dennoch die Rechte des Parlaments gegenüber der Regierung und dem Bundespräsidenten vertreten. Natürlich stand dahinter die Hoffnung, bei späteren Wahlen zum Nationalrat wieder die relative oder vielleicht sogar irgendwann einmal absolute Mehrheit im Nationalrat zu erlangen. Aus dieser Situation ergab sich, weil eine Änderung des Bundesverfassungsgesetzes nur mit Zweidrittelmehrheit möglich war und daher die Zustimmung der Sozialdemokraten erforderlich war, eine neuerliche Kompromisslösung, könnte man sagen. Die Stellung des Bundespräsidenten wurde zwar gestärkt, insbesondere dadurch, dass er künftig hier nicht mehr von der Bundesversammlung, sondern vom Volk direkt gewählt werden sollte, also eine direkte demokratische Legitimation erhalten sollte und der Bundespräsident erhielt das Recht, die Bundesregierung zu ernennen. Während sie bis dahin ja vom Nationalrat gewählt worden war.
SCHERMANN: Der Bundespräsident ernannte ab dann also die Regierung. Gleichzeitig konnte das Parlament aber ein Misstrauensvotum gegen Mitglieder der Regierung einbringen. Wird das vom Parlament so beschlossen, entlässt der Bundespräsident bekanntlich die amtierende Regierung. Ein Kompromiss zwischen beiden Parteien. Aber die Sozialdemokratie und die Christlichsozialen blieben nicht immer so einig.
SCHEFBECK: Die Parteiengegensätze zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokraten wuchsen in diesen Jahren, trotz des 1929 erzielten Verfassungskompromisses. Man hat ja dann auch von Gegensätzen zwischen politischen Lagern gesprochen, weil hinter den politischen Parteien ja viele Vorfeldorganisationen standen, viele gesellschaftliche Organisationsformen, die mit den politischen Parteien verbunden waren. Und diese Lager standen einander immer feindseliger gegenüber. Dem christlichsozialen Lager wurde damit die Möglichkeit des sozialdemokratischen Lagers im Parlament, im Nationalrat, alle, die ihm dort zukommenden Minderheitsrechte einzusetzen, immer, man könnte es salopp sagen, lästiger. Das hat letztlich dazu geführt, dass, obwohl die Christlichsozialen mit ihren Koalitionspartnern im Parlament zumindest eine relative Mehrheit hatten, eine absolute hatten sie zuletzt dann schon nicht mehr, die Bundesregierung unter dem damaligen Bundeskanzler Dollfuß in jener berühmt-berüchtigten bekannten Sitzung des Nationalrates am 4. März 1933 die Gelegenheit ergriffen haben, die ihnen eine Geschäftsordnungskrise geboten hat, den Nationalrat auszuschalten, aber von einer Selbstausschaltung zu sprechen.
LESCHKA: Das passierte, weil es eine parlamentarische Meinungsverschiedenheit gab, weshalballe drei Nationalratspräsidenten ihr Amt niederlegten. Diese Situation war weder von der Verfassung noch von der Geschäftsordnung vorgesehen. Der Nationalrat konnte nun de-facto nicht mehr agieren. Der Christlichsozialen Regierung war es sehr recht, keine Kompromisse mit den Sozialdemokraten im Parlament mehr schließen zu müssen.
SCHEFBECK: Die Sozialdemokratie wurde immer mehr in die Illegalität gedrängt. Sie hat sich noch des Bundesrates bedienen können, der ja weiter im Amt war, der weiter agiert hat, auch wenn die Christlichsozialen ihre Bundesräte zurückgezogen haben, diese nicht mehr an den Sitzungen teilgenommen haben. Und im Bundesrat konnten, zum Beispiel durch dringliche Anfragen, selbst wenn sie nicht beantwortet, wurden an die Bundesregierung, Inhalte thematisiert werden, die von der Bundesregierung durch Zensur aus den sozialdemokratischen Zeitungen, insbesondere der Arbeiterzeitung, entfernt worden waren. Das heißt also, der Bundesrat war dann in dieser Zeit nach der Ausschaltung des Nationalrates ein sehr wichtiges parlamentarisches Gremium, weil er das verkörpert hat, was der Nationalrat nicht mehr verkörpern konnte, nämlich Öffentlichkeit, parlamentarische Öffentlichkeit. Also die Kommunikationsfunktion des Parlaments ist in dieser Situation besonders deutlich geworden.
SCHERMANN: Es gab also eigentlich kein Parlament mehr. Der christlichsoziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß regierte diktatorisch. Österreich wurde ein Ständestaat. Es kam zu einem Bürgerkrieg. Alle anderen Parteien, also vor allem die Sozialdemokratie und der Nationalsozialismus, wurden verboten. Um den Schein zu wahren, ließ Dollfuß ein Parlament zusammentreten. Dieses hatte jedoch keinerlei Macht. Es war ein Scheinparlament.
SCHEFBECK: Die Tatsache, dass man dieses Scheinparlament im autoritären sogenannten Ständestaat eingerichtet hat, zeigt aber, dass die Idee des Parlamentarismus doch immerhin so stark war, dass man selbst an einem solchen autoritären Staat meinte, zumindest äußere Formen eines Parlaments einrichten zu sollen. Die Substanz dieses Staates war aber natürlich viel zu schwach, um dem aufkeimenden Nationalsozialismus entgegentreten zu können. Und so war im Jahr 1938, im März 1938 dann natürlich der Widerstand gegen den sogenannten Anschluss an das Deutsche Reich ohne politische Einmütigkeit der österreichischen politischen Parteien und politischen Kräfte praktisch unmöglich und es kam zum Ende der Ersten Republik Österreich, vier Jahre nachdem der Parlamentarismus der Ersten Republik Österreich bereits ein Ende gefunden hatte. Diese beiden Fakten, das Scheitern des Parlamentarismus und das Scheitern der Republik Österreich sind ganz ohne Zweifel in einem Zusammenhang zu sehen, weil durch das Fehlen eines handlungsfähigen, starken Parlaments mit einem offenen Austausch politischer Positionen, aber zugleich einer, von den im Parlament vertretenen politischen Parteien getragenen, politischen Kultur der Zusammenarbeit, diesen österreichischen Staat so sehr geschwächt hat, dass er dem Nationalsozialismus keinen Widerstand mehr entgegensetzen konnte.
LESCHKA: Liebe Hörerinnen und Hörer, damit sind wir schon wieder fast am Ende unserer Folge angelangt! Wie immer: Wenn Sie Fragen, Anregungen oder Vorschläge für neue Folgen haben, schreiben Sie uns bitte unter podcast@parlament.gv.at. Wir freuen uns auf Sie!
SCHERMANN: Ansonsten hören wir uns in zwei Wochen wieder. Dann sprechen wir über das Parlament zur Zeit des Nationalsozialismus! Damals gab es das österreichische Parlament nämlich gar nicht. Wie immer vielen Dank für Ihr Zuhören. Hoffentlich bis dahin! Ciao!
LESCHKA: Tschüss!